Cornel West - Stimme der Gescheiterten

Foto: Henning Klingen
Foto: Henning Klingen

Wer Cornel West begegnet, kann sich dem Charisma des US-amerikanischen Philosophen, Predigers und schillernden öffentlichen Intellektuellen nur schwer entziehen. Seine Sprache ist direkt und schnörkellos, sein breites Lachen ansteckend. Wenn West jedoch beginnt, aus dem Stand europäische Philosophen und Literaten zu zitieren und dies zu einer scharfsinnigen, tiefschwarzen Gesellschaftsdiagnose zu verweben, wird einem klar: Hier hat man die glückliche Mischung aus philosophischer Brillanz und öffentlichkeitswirksamer Inszenierung vor sich. Ein Ansatz, der bei West durchaus programmatisch ist. Denn philosophische Erkenntnis ist für ihn kein Produkt eines universitären Elfenbeinturms, sondern Ertrag öffentlicher Debatte und vor allem sensiblen Zuhörens auf die Menschen am Rand der Gesellschaft.

 

Mein Gespräch mit Cornel West kann hier nachgehört und hier auf der Seite des "Deutschlandfunks" nachgelesen werden.

 

"Wenn man sich als radikal demokratischer Intellektueller versteht, dann muss man auf die wichtigen Stimmen des 'demos', des Volkes, hören - wo immer sie sich artikulieren. Das kann in politischen Verbänden der Fall sein oder in den Kirchen oder auch im Studio mit Hip-Hop-Musikern. Genau das bedeutet es, sich als radikal demokratischer und nicht nur als öffentlicher Intellektueller zu verstehen: Öffentlich allein wäre zu neutral, demokratisch in diesem Sinne meint, auf die Stimmen des Volkes zu hören, die darum ringen, was es bedeutet, Mensch und menschlich zu sein. Ich fühle mich von diesen Menschen inspiriert und zugleich fühle ich den Ruf, dorthin zu gehen und eine Ahnung zu bekommen, was diese vielen verschiedenen Stimmen sagen."

 

Was Cornel West diese Stimmen erzählen, ist die Geschichte der Gescheiterten, der Verwundbaren und Leidenden. Ihre Geschichte werde auch in der Philosophie nur allzu oft unterschlagen, glattgebügelt. Dabei könne eine Philosophie, die sich ehrlich den historischen Prozessen stellt, nicht anders, als sich auf die Seite der Opfer zu stellen und für deren Rechte einzustehen.

 

Schlechte Zeiten für eine leidsensible Philosophie

 

"Was ich versuche, ist die Bedeutung des Traumatischen, des Gräuels und der unzähligen Tränen im historischen Prozess herauszuarbeiten. Die Philosophie tendiert dazu, unsere Rede von Geschichte klinisch zu bereinigen. Wenn man sich dagegen wirklich auf Geschichte einlässt, muss man mit dem Katastrophischen ringen, wie es sich in Traumata, im Gräuel und in den Tränen zeigt."

 

Dabei stehen die Zeichen für eine solche leidsensible Philosophie eigentlich schlecht, sagt West. Schließlich erlebe man derzeit weltweit einen Aufstieg des Neo-Faschismus und des Nihilismus, also jener Überzeugung, dass Härte und Gewalt bar jeder Moralität die angemessene Reaktion auf den brutalen wirtschaftlichen Konkurrenz- und Arbeitskampf darstellt.

 

"Wir leben in einer Zeit tiefgreifender ökonomischer Unsicherheit. Auf der einen Seite die Übermacht von big money und internationalen Unternehmen. Auf der anderen Seite Menschen, die vor einer sozialen Abwärtsspirale stehen. Die Wiederkehr des Faschismus hat mit genau diesen Phänomenen zu tun: der anhaltenden sozialen Abwärtsspirale und der Finanzkrise. Und das big business und die großen Unternehmen befördern eine solche Entwicklung noch in Richtung einer autoritären Politik."

 

Hoffnung hingegen gäben Menschen, die zu "Zeugen" werden, die prophetisch handeln, aufdecken, was ist und Widerstand mobilisieren.

 

"Ich denke, man findet Hoffnung immer dort, wo Menschen zu Zeugen von Integrität, Ehrlichkeit und Anstand werden und die Lüge ablehnen. Es gibt überall prophetische Menschen - in den Kirchen und Moscheen, in der feministischen Bewegung, in der Arbeiterbewegung. Sie sind dort draußen, die ganze Zeit und üben Widerstand. Dabei scheint dieser Widerstand auf den ersten Blick oft machtlos zu sein - aber auf lange Sicht werden auch die Autokraten und Plutokraten, gegen die sich der Widerstand richtet, die Konsequenzen ihres Handelns tragen müssen."

 

"Der Blues rüttelt den Menschen wach"

 

Bis es soweit ist, braucht es, so West, sensible Geister, Menschen, die ein Gespür für das Leiden des Anderen haben. Ein Mittel, dieses Gespür zu schärfen, ist für ihn der Blues.

 

"Der Blues ist zutiefst amerikanisch. Und als solcher ist er immer besetzt mit dem Katastrophischen. Denken Sie in der Literatur etwa an Kafka, Beckett oder Tschechow. Diese Autoren berühren mit ihren Werken das Katastrophische, das Leiden, die Trauer, die uns alle bewegt. Und die einzig mögliche Antwort darauf ist der spezielle Sound der Verzweiflung, wie ihn auch der Blues hat. Außerdem birgt der Blues eine radikale Dissonanz in sich: Menschen hören Amerika und denken: Wow, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Dagegen sagt uns der Blues: Amerika, das Land der Sklaverei, der Folter, des Lynchens. Der Blues rüttelt den Menschen wach – das ist so wundervoll am Blues."

 

Der Blues ist für West ein globales Phänomen. Ob spanischer Flamenco oder deutsche Arbeiterlieder: Überall bricht sich auch in der Musik die Stimme der Schwachen Bahn und klagt eine andere, gerechtere Geschichte ein. Wo dieser Schritt von der Wahrnehmung fremden Leidens hin zu gesellschaftsverändernder Praxis gelingt, spricht West von "prophetischem Pragmatismus", dem Leitbegriff seiner ganzen Philosophie.

 

"Der Pragmatismus kommt dem Jazz nahe. Bei beidem geht es um Flexibilität, Fluidität und Dynamik - verbunden mit einer Art intellektueller Demut und Bescheidenheit, dass alles letztlich vorläufig bleibt, dass man bei allem auch falsch liegen kann. Prophetisch wird dieser Pragmatismus, wenn man ihn auf die Geschichte selbst anwendet; wenn man ihn in die Leidensgeschichten dieser Welt eintaucht. Denken Sie an den Propheten Amos, der sagte: 'Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach'. Der Genius des Judentums liegt darin, der Menschheit ein großes moralisches Geschenk gemacht zu haben und diese Fragen in den Mittelpunkt gerückt zu haben: Was bedeutet es, menschlich zu sein, was bedeutet es, mit den Schwachen und Verwundbaren solidarisch zu sein?"

 

Damit schließt sich bei West auch biografisch der Kreis. Denn der 1953 in Tulsa, im Mittleren Westen der USA, geborene West ist bei allen akademischen Höhenflügen stets ein bescheidener, gläubiger Baptist geblieben. Mit amerikanischer Leichtigkeit gelingt ihm, was im europäisch-universitären Philosophie-Selbstverständnis kaum möglich erscheint: persönliche Religiosität und freies philosophisches Denken zu verknüpfen. Da wundert es nicht, wenn West bei der Beschreibung seiner eigenen religiösen Überzeugung einen für europäische Ohren ungewöhnlichen, wenn auch urbiblischen Zugang wählt.

 

"Ich bezeichne mich selbst als 'Karsamstags-Christ'. Karfreitag ist der Tag des Todes Jesu, am Karsamstag ringt er nach der biblischen Tradition mit dem Tod - und wir leben in genau diesem Zeitfenster des Ringens mit dem Tod. Viele Menschen feiern Ostern überstürzt, sie nehmen sich nicht die Zeit zu überlegen, was diese Tage davor, der Todestag Jesu und der Tag der Grabesruhe, letztlich bedeuten. Die Frage lautet daher: Wie stärken wir die radikale Nächstenliebe und das mutiges Mitleiden an diesem Karsamstag – in der Zeit also vor Ostern."

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