Warum schläfst du, Herr?

Acht Jahre lang war das Gefühl des brennenden Vermissens mein täglicher Begleiter. Es war dies die Zeit, nachdem ich Mitte der 1990er-Jahre meine heutige Frau kennengelernt hatte, sie aber weiterhin in Österreich lebte, arbeitete, studierte, ich hingegen im Norden Deutschlands. Acht Jahre intensiver Briefwechsel, vereinzelter Telefonate und noch viel seltenerer Besuche. Wenn ich das heute erzähle, wirkt das wie aus einer anderen Welt – damals so ganz ohne Handy, ohne SMS, ohne E-Mail, ohne ständige Erreichbarkeit...

Ähnliche Erfahrungen der Sehnsucht und der Entbehrung auf persönlicher Ebene kennt wohl jeder. Auf eine andere Form des Vermissens wird derzeit jedoch verwiesen, wer die Meldungen aus Nahost verfolgt: Wessen Herz wird nicht zerrissen, wenn er Menschen, Kinder auf der Flucht vor Krieg und Gewalt sieht? Wer spürt da nicht durch die Geschichte hindurch den großen Durst nach Frieden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit? So viel Leiden, so viel Schmerz und Ungerechtigkeit. Fast könnte man meinen, das Leben hält den Atem an, hält inne am dunkelsten, gottfernsten Tag.


Die Psalmen kennen nicht nur den Lobpreis, sie kennen auch die tiefe Sprachlosigkeit angesichts des Schweigens Gottes. In einer der nachtschwärzesten Hymnen schleudert der Beter Gott seine ganze
Verzweiflung, sein ganzes Vermissen, entgegen:


Wach auf! Warum schläfst du, Herr? /

Erwache, verstoß nicht für immer! /

Warum verbirgst du dein Gesicht, /

vergisst unsere Not und Bedrängnis?

(Psalm 44).


Wo dieser Durst nach Gerechtigkeit noch die Kehle abschnürt, wo sich Menschen noch nicht von der Wucht der Nachrichtenlage in die Apathie drängen lassen, wo sie noch aufstehen und protestieren, da ist auch Gott noch im Spiel. Nicht als Trumpf, den man im Ärmel hält, um ihn denjenigen am Boden anzubieten, nein, als große Leerstelle, als Triebfeder der Sehnsucht nach einer anderen Welt.


Klein und vermessen mag dagegen das persönliche Vermissen wirken, die Erinnerungen an diese unfreiwillige Fastenzeit des Herzens. Und doch hängt beides zusammen. Denn wer das Sehnen verlernt, der erkennt nicht mehr die Kraft der Veränderung, der versinkt in sprachloser Hoffnungslosigkeit und gibt sich letztlich als Mensch auf. Sehnsucht kann schließlich zum Widerstand motivieren, zum Protest und zur Solidarität. In der Lebenswelt, in der Politik – aber auch im Glauben.


Und welche Zeit wäre besser geeignet, sich dieser großen Sehnsucht bewusst zu werden, als die Fastenzeit?

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