Der Leere standhalten

Ein gerade einmal 20-Jähriger tötet in einer Schule der US-Kleinstadt Newtown 27 Menschen, darunter zahlreiche Kinder. Wie kann das passieren? Wer oder viielmehr "Was" ist der Täter? Ein Motiv muss her - für die Medien zumindest. Denn es scheint nicht auszuhalten, dass es vielleicht keine Antwort auf das "Warum" gibt. Oder eine Antwort, die man nicht gerne hören will.

 

Er war "auffällig unauffällig", konstatiert zur Frage nach dem "Warum" und dem Psychogramm des Attentäters der Spiegel. Er kam offenbar weder aus einem familiär verwahrlostem Umfeld noch aus prektären Verhältnissen. Wie so viele andere der jugendlichen "School Shooter". Der Spiegel: "Tatsächlich ist die Unauffälligkeit der Jugendlichen bezeichnend. Es gibt wenig Einigkeit innerhalb der Kriminologie, was junge Männer zu Tätern werden lässt. Fest steht aber: Keiner der Täter war vorher polizeibekannt, keiner schwer kriminell. Man hätte es keinem von ihnen zugetraut."

 

Entsprechend wird man Präsident Obama die Tränen als aufrichtiges Zeichen der Erschütterung abnehmen dürfen. Doch die Stille des Entsetzens dauerte auch in diesem Fall nicht lange an. Gleich wurde von Zeitungen und Sendern das ganze Arsenal an Kommentatoren und Psychologen aufgeboten, um zu erklären, was sich dem Verstand entzieht. Schließlich werden wieder einmal die laxen Waffengesetze alleinverantwortlich gemacht: "Make it easy for people to get guns and things like this will happen" schreibt etwa ein Kolumnist in der New York Times. Aber ist es tatsächlich so einfach? Oder sind solche Erklärungsmuster nicht wiederum nur Ausdruck des Erklärungsnotstandes angesichts des Unfassbaren?

 

Ein Kommentator der Washington Post hat ähnliche Zweifel, wenn er schreibt: "There should be no words for this. But we know how this goes. (...) I hate that we will use this tragedy to show how Right we were. That everyone will go on television insisting that he or she knows What Caused This, and that it was Video Games or Our Culture of Non-Empathy, or Atheists, or Our Loss of Faith (all actual suggestions I’ve already heard) or that there is one specific hobby-horse that he can pinpoint. I hate that we have a template for tragedy that should have no template."

 

"Aktiver Nihilismus": Gewalt um ihrer selbst Willen

 

Wenn man dem Phänomen grassierender unerklärlicher Gewalteskalationen - wie etwa im Sommer 2011 durch Anders Breivik - auf den Grund gehen will, dann führt meines Erachtens das Stichwort des "aktiven Nihilismus" (Nietzsche) weiter. Der Begriff bezeichnet ein neuartiges Phänomen, nämlich jenes eines jeder Ideologie entleerten Strebens, das nicht nach Veränderung, nach einem anderen Leben trachtet, sondern das ein Ja zum Nichts spricht. Der aktive Nihilist zielt nicht mehr auf das Utopische, auf die Umformung der Zustände, er trägt auch nicht mehr den Schrei eines verwundeten Glaubens in sich. Er intendiert nicht Heilung, sondern Untergang. Seine Sprache ist Gewalt - allerdings betont als Ausdruck der Sinnlosigkeit und nicht als Ausdruck von Hass, Zorn oder Rachegelüsten.

 

Alles leere, mehr oder weniger intellektuelle Phrasen? Es ist einer der gegenwärtig wohl prominentesten öffentlichen Intellektuellen der USA, der dieser Spur im Blick auf grassierende Gewaltphänomene unter jugendlichen Schwarzen in den USA nachgeht: Cornel West. West ist Prediger (Baptist) und Philosoph - und Analytiker der amerikanischen Gegenwartskultur. Seine Diagnose: Weder Unterdrückung noch Ausbeutung stellen die großen Gefahren für die junge Generation dar, "sondern eher die nihilistische Bedrohung - gemeint ist der Verlust der Hoffnung und die Abwesenheit von Sinn".

 

Seelengelähmte im wunschlosen Unglück

 

Die Zerrüttung basaler Wertstifter - allen voran die Familie - lassen junge Menschen zunehmend verwundet und moralisch entkernt zurück. Die Folge - so formuliert es im übirgen erstaunlich anschlussfähig auch die Neue Politische Theologie - ist ein "seelengelähmter" und im "wunschlosen Unglück" zurückgelassener Mensch. Zukunft ist ihm keine Verheißung mehr, nurmehr Verlängerung der Gegenwart - "Prozessmelancholie" (P. Sloterdijk). Die Folgen laut West: Apathie, Fatalismus, Fanatismus - und blinde Gewalt, die letztlich auch vor dem eigenen Ich nicht halt macht. So richtet sich die Waffe der jugendlichen Mörder am Ende gegen sich selbst.

 

Gewiss, Erklärungsversuche wie dieser allein trösten nicht die Überlebenden und Angehörigen der Opfer. Auch dürfen sie nicht als Plädoyer für eine neokonservative Rolle-Rückwärts missverstanden werden, weisen sie doch bei West in eine radikaldemokratische Praxis ein; Aber sie können - vielleicht - dazu beitragen, die Leere auszuhalten, die aus solchen Taten spricht.

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