Am 10. November veröffentlichte die FAZ eine Rede Martin Walsers, gehalten zum 9. November an der Universität Harvard, mit dem Titel "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" (Volltext). Gewiss, Walser ist umstritten, spätestens seit der berühmten "Schlussstrich-Debatte" u.a. mit Ignaz Bubis im Anschluss an seine Paulskirchenrede von 1998 gilt er vielen als Revisionist, ja Nationalist...
Diese Debatte wurde auch in der Theologie verfolgt und zum Teil kommentiert. Vielleicht mag es angesichts dieser Vorgeschichte und der damit verbundenen Angst, "sich die Finger zu verbrennen", verständlich sein, dass sich kein Theologe bislang öffentlich mit der jüngsten Harvard-Rede Walsers auseinandergesetzt hat. Oder fühlt man sich etwa angesichts der Gedankengänge in die Gefilde protestantischer Theologie nicht zuständig?
Mich erstaunt, wie gering bislang die Resonanz in den Feuilletons auf die Walser-Rede war. Vielleicht lag die Debatte seines jüngsten Buches im Sommer noch nicht weit genug zurück. Vielleicht aber wusste man - wie das Beispiel Alan Poseners in der "Welt" zeigte - sich nicht recht zu diesen theologischen Tiefenbohrungen zu verhalten und flüchtete sich - siehe Posener - statt dessen in dümmliche brachial-Kritik, die zumindest den theologischen Versuchen nicht gerecht wird.
Mir liegt es fern, Walser zu rechtfertigen (das versucht er in dem Text ja selbst mehr oder weniger erfolgreich) oder durch selektive Lektüre zu entlasten. Allein, das in seiner Rede angetippte Motiv einer durch alles atheistische Geplänkel hindurch bestehenden religiösen Tiefendimension - jene des Vermissens - sollte theologisch empfindsame Geister anregen und herausfordern. Walser tippt in seinen Exkursen zu Karl Barth und schließlich zum späten Nietzsche an, was ich in der Theologie meinem Empfinden nach viel zu selten wiederfinde: den Zweifel, das Gott-Vermissen, das Wissen, in der Welt leben zu müssen "etsi deus non daretur".
Bei Walser liest sich das so: "Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem 'bekennenden', höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir." Religion in dieser entkleideten, vielleicht zu sehr des Mythos entrissenen Form wird damit zur radikalsten Hominisierungs- und Welt-Werdungs-Institution überhaupt. Atheismus ohne Vermissen ist nurmehr platt, banal. Eine säkulare Lebensform, die um jene metaphysische Tiefe weiß, die sie getilgt hat, die sie zumindest noch vermisst ohne sie herbeizusehnen, gilt es zu verteidigen - mit theologischen Mitteln!
Meine journalistisch-essayistischen Versuche dazu finden sich hier:
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