Theologie

Wissenschaftliche Publikationen & Aufsätze


Zum Kirchenverständnis der Neuen Politischen Theologie

 

Der folgende Text ist eine gekürzte Version des dem neuen, von mir herausgegebenen "Jahrbuch Politische Theologie" vorangestellten Editorials. 

 

Die Neue Politische Theologie ist von Beginn an ekklesiologisch verortete Theologie. Als kritische Theologie in der Kirche verfolgte und verfolgt sie bis heute eine doppelte Stoßrichtung: Indem sie auf Privatisierungstendenzen und die Gefahren der Selbstghettoisierung, der Selbstsäkularisierung und der kognitiven Vereinsamung der Kirche als Institution hinweist, versteht sie sich als innerkirchliche Reformstrategie, die zugleich ein kritisch-emanzipatorisches Selbstverständnis der Gläubigen fördern möchte. Auf der anderen Seite versteht sie Kirche als "Institution gesellschaftskritischer Freiheit” (J.B. Metz) und damit als Ort kritischen Räsonnements über die Grundstruktur gesellschaftlicher Freiheit selbst.

 

Entfaltet finden sich diese ekklesiologischen Grundannahmen bereits in den ersten Basistexten der Neuen Politischen Theologie. Ob in der Theologie der Welt (1968), im Debattenband Diskussion zur "Politische Theologie" (1969) oder in den ersten Lexikonartikeln und Vorträgen von Johann Baptist Metz Zum Problem einer Politischen Theologie (1967) – stets war es die Kirche, auf die das theologische Argument hinauslief, an der es sich neu kritisch entzündete oder von der ausgehend neue Aufbrüche gesucht wurden. Die Frage der Kirche und deren Präsenz in der Gesellschaft, so Metz schließlich in Glaube in Geschichte und Gesellschaft, „ist die Frage nach der gegenwärtigen Situation von Theologie und Kirche überhaupt”.

 

Den hermeneutischen Hintergrund bildeten dabei u.a. die Debatten über das Verhältnis von Institutionen und Freiheit in den 1960er Jahren. Wie kann Theologie gleichzeitig kritisch und institutionell eingebettet sein? Wie kann sie zum Objekt ihrer Kritik machen, was zugleich bestimmende Struktur ihrer erkennenden kritischen Subjektivität ist, nämlich Kirche, fragte Metz. Ausgehend von der Dialektik dieser Begriffe entwickelte er die Idee von Kirche als einer „Institution zweiter Ordnung”, die gerade nicht den Mustern einer freiheitskritischen Form der Institutionalisierung entspricht, sondern die das kritische Bewusstsein und die Reflexion über die Bedingungen der Freiheit selbst in sich aufgenommen hat. Freiheit also nicht gegen, sondern gerade in Institutionalisierung.

 

Dieser enge Konnex zwischen Neuer Politischer Theologie und kirchlicher Praxis liegt – auch das lehrt der Blick in die frühen Texte von Johann Baptist Metz – gewissermaßen in der Natur des theologischen Grundansatzes selbst. Wenn nämlich Politische Theologie nicht nur eine Form, eine „Schule” innerhalb der Theologie darstellt, sondern eine Grundform geschichts- und gesellschaftssensibler Gottesrede überhaupt, wenn sie somit einen „Grundzug im theologischen Bewusstsein überhaupt aufdecken” will, dann kann sie gar nicht anders, als in eine Form kirchlicher Praxis zu münden. Als Trägerin der Memoria passionis, als öffentliche Zeugin und Tradentin einer gefährlichen Freiheitserinnerung in den Systemen der emanzipatorischen Gesellschaft und als Ort „befreiter Freiheit” stellt Kirche damit die conditio sine qua non auch der Neuen Politischen Theologie dar.

 

Dies bedeutet freilich nicht, Kirche zum Zentrum der Theologie zu machen. Dieser Versuchung widersteht die Neuen Politische Theologie ausdrücklich, indem sie Theologie streng theozentrisch als Rede von Gott in Geschichte und Gesellschaft versteht. Wo also die Neue Politische Theologie die eschatologische Botschaft des Christentums in den Verhältnissen der Neuzeit als Gestalt kritisch-praktischer Vernunft ausdrückt, wo Freiheit, Friede, Gerechtigkeit und Versöhnung als nicht privatisierbare Verheißungen auch der biblischen Tradition verstanden werden, da drängt Politische Theologie geradezu notwendigerweise in die kirchliche Praxis ohne in dieser aufzugehen. Eine „völlig institutionsfreie kirchenlose Überlieferung dieses Gedächtnisses”, so Metz, erscheint der Neuen Politischen Theologie als „illusionär”.

 

Dass die ekklesiologische Verortung Neuer Politischer Theologie im Laufe der Zeit indes etwas in den Hintergrund getreten ist, mag in den veränderten Debattenlagen ebenso begründet sein wie in ihrer Genese selbst. So entwickelte sie sich nicht zuletzt auch entlang der jeweils aktuellen Diskurse wie etwa dem "Historikerstreit" der späten 1980er Jahre, der Fokussierung lateinamerikanischer Befreiungsbewegungen, der Krisensymptomatik "Kirchenkrise vs. Gotteskrise" in den 1990er Jahren, oder zuletzt den Diskussionen über Begriff und Gehalt der Säkularisierung und ihren dialektischen Schlingen sowie der Entfaltung des Begriffs des Politischen im Ringen um die Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens.


Mit seinem jüngsten Buch Mystik der offenen Augen (2011) schloss Metz im Übrigen wieder an diese "frühe" Tradition einer ekklesiologischen Verortung seiner Theologie an. So endete der Band mit Überlegungen zu einer "lernunwilligen Kirche", die "für eine immer stärker wachsende Zahl von Glaubenden wie ein lernunfähiges, hierarchisch abgehobenes Belehrungssystem" erscheint, sowie einer Erinnerung an das auf Metz zurückgehende Synodendokument "Unsere Hoffnung” (1975) als bleibendem Impuls zu einem "Aufstand der
Hoffnung”

 

 


Henning Klingen

Gefährdete Öffentlichkeit
Zur Verhältnisbestimmung von Politischer Theologie und medialer Öffentlichkeit

 

LIT-Verlag / Reihe: Religion - Geschichte - Gesellschaft
Bd. 46, 2008, 344 S., 34.90 EUR, br., ISBN 978-3-8258-1341-3

 

Bestellbar beim LIT-Verlag oder erhältlich bei Amazon

 

Eine funktionstüchtige politische Öffentlichkeit gehört dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas zu Folge zu den Grundbedingungen jeder stabilen Demokratie. In ihr hat das Politische als beständiger Diskurs über die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts seinen Ort. Heute wird die politische Öffentlichkeit praktisch gleichgesetzt mit der massenmedialen Öffentlichkeit. Fernsehen, Radio und Internet bilden vielstimmige Kommunikationsarenen, die Gesellschaft und Individuum zutiefst prägen und einen normativen Begriff von Öffentlichkeit zunehmend destruieren. Die vorliegende Studie zeichnet die Auswirkungen der medialen Öffentlichkeit auf die gesellschaftlichen und politischen Diskurse sowie auf die individuelle Diskursfähigkeit nach und erörtert die Folgen für die neue Politische Theologie. Dabei wird der Gedanke entfaltet, dass die neue Politische Theologie durch die theologischen Paradigmen der Apokalyptik und der Arkandisziplin einen wichtigen Beitrag zur Arbeit an "unterbrechender Gegenöffentlichkeit" (K. Gabriel) zu leisten vermag.


Jürgen Manemann, Bernd Wacker (Hg.)
Politische Theologie - gegengelesen

 

LIT-Verlag / Reihe: Jahrbuch Politische Theologie
Bd. 5, 2008, 304 S., 24.90 EUR, br., ISBN 978-3-8258-9096-4

 

Bestellbar beim LIT-Verlag oder erhältlich bei Amazon

 

Mit Beiträgen u.a. von Jürgen Manemann, Bernd Wacker, Tiemo Rainer Peters, Matthias Möhring-Hesse, Henning Klingen, Thomas M. Schmidt...

 

Der 5. Band "Politische Theologie - gegengelesen" fragt nach der Aktualität der Politischen Theologie. "Gegenlesen" steht für Relecturen, Korrekturen, Kritiken, Erweiterungen. Dieses Jahrbuch arbeitet an Problemverschärfungen, nicht zuletzt im Blick auf die Neue Politische Theologie selbst.

 

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Foto: kathbild.at
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Theologie als Theodizee

 

Die „Neue Politische Theologie“ von Johann Baptist Metz will vor allem eines sein: geschichtsempfindliche Gottesrede, die sich im Tun erschließt und den Antlitzen der Leidenden standhält. Viele ihrer Impulse sind bereits in die theologische Alltagssprache eingegangen – allein die Kirche tut sich mit ihr schwer

 

Was treibt jemanden dazu, Theologie zu treiben, leidenschaftlich, mit dem Pathos eines Berufenen? Viele sprechen vom „fascinosum“, von der Ergriffenheit von Gott, vielleicht auch von einer spirituellen Not, die sie zur Theologie getrieben hat. Bei Johann Baptist Metz, dem großen deutschen Theologen, der in diesen Tagen seinen 80. Geburtstag feiert, war es stets das Gegenteil, die dunkle Seite Gottes, das „tremendum“, dass ihn bewegte und welches ihn zu einem der produktivsten und einflussreichsten Theologen der Nachkriegszeit werden ließ.

 

Wo andere Theologen bereits kurz nach Kriegsende zu ihrem theologischen Alltagsgeschäft zurückkehrten und im Beharren auf der Kontinuität bürgerlicher Religiosität die dunklen NS-Jahre

gleichsam als historischen „Fehler in der Matrix“ übersprangen, wurde für Metz diese Erfahrung

zur Unterbrechung und zum Anstoß der leidenschaftlichen Rückfrage an Gott. „Warum“, so fragte Metz seinen Lehrer Karl Rahner, „habt ihr uns von diesen Katastrophen nichts erzählt? Warum sieht man unserer Theologie die Leidensgeschichte der Menschen so wenig oder überhaupt nicht an?“

 

Religion „nach Auschwitz“, dies ist für Metz fortan nurmehr denkbar im Widerspruch gegen Gott, im Widerspruch auch gegen jene, die im Angesicht der Leidenden gelingendes Leben spirituell umschlungen zelebrieren. Mit Walter Benjamin: „dass es ‚so weitergeht’, ist die Katastrophe“. So formuliert er die Frage Guardinis, „Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen?“, um in die Frage nach dem „Wie lange noch?“ Endet nicht auch mit dieser zur Frage geronnenen Theodizee der neutestamentliche Erzählstrang in der Offenbarung des Johannes? „Maranatha“, „Komm, oh, Herr Jesus!“

 

Das theologische Programm, dass Metz seit Anfang der 1960er Jahre in einem fruchtbaren Dialog mit den Vordenkern der „Frankfurter Schule“, Theodor W. Adorno und – bis heute – Jürgen Habermas, entwickelte, benannte er selbst zunächst bezeichnenderweise als „Theologie der Welt“, gemeint ist: Theologie mit dem Gesicht zur Welt. Als Grundformel seiner „Neuen Politischen Theologie“ formulierte Metz bereits damals: „In ihr wird Welt primär als gesellschaftliche Mitwelt und Geschichtswelt, Geschichte primär als Endgeschichte, Glaube primär als Hoffnung, Theologie primär als eschatologisch-gesellschaftskritische Theologie sichtbar.“

 

Anders formuliert: wo Leidenserfahrungen die Hoffnung auf eine konsistente Heilsgeschichte Gottes brüchig werden lassen, wo die „Dialektik der Aufklärung“ den Menschen mit voller und blutrünstiger Wucht trifft, dort ist der Mensch aufgerufen, sozusagen ‚Gott zum Trotz’ Geschichte endlich als seine eigene Geschichte zu begreifen und Erlösungshoffnung in Befreiungshandeln umzumünzen.

 

Metz’ Theologie ist damit Fundamentaltheologie im Sinne einer fundamentalen Theologie, die

an den Fundamenten bürgerlich verfasster Religiosität rüttelt. Entsprechend darf auch der Terminus der „Neuen Politischen Theologie“ nicht zu einer realpolitisch informierten Theologie verengt werden. „Politisch“ bedeutet laut Metz „öffentlich-belangvoll“. Damit wehrt er sich nach eigener Auskunft bis heute „gegen die Selbstprivatisierungssymptome in der Theologie und im Christentum“, d.h. gegen den Reflex der Einigelung der Theologie in überkommener Heilsrhetorik – im Übrigen auch gegen den innerkirchlich lauter werdenden Ruf nach einer aktiven Teilhabe am Trend der „Respiritualisierung“.

 

Außerdem wehrt sich Metz mit dem Terminus der „Neuen Politischen Theologie“ gegen jene alte „Politische Theologie“ des „Kronjuristen“ Adolf Hitlers, Carl Schmitt. Hatte dieser in seiner „Politischen Theologie“ ein Konzept der religiösen Legitimation staatlicher Hegemonie und totalitärer Gewalt formuliert, so geht es der „Neuen Politischen Theologie“ stets um das Gegenteil: die politische und gesellschaftliche Emanzipation des einzelnen Individuums – auch in seiner Haltung gegenüber Gott.

 

Dass man die Metzsche „Neue Politische Theologie“ heute als eine der letzten profilierten Theologien bezeichnen kann, die in ihrer Sperrigkeit immer eine gewisse Distanz zur universitären Theologie wie auch zur kirchlichen Hierarchie bewahrt hat, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie ihre Produktivität ständigen Kämpfen und Streitigkeiten verdankt. Das bekannteste „Scharmützel“ ist dabei wohl der seit rund 30 Jahren andauernde Streit zwischen Metz und dem damaligen Erzbischof von München-Freising, Joseph Ratzinger. Dieser hatte Metz 1979 einen Ruf an die Universität München verwehrt. Schließlich lehrte Metz bis zu seiner Emeritierung 1993 in Münster.

 

Auch theologisch kam es immer wieder Auseinandersetzungen. Zuletzt formulierte Metz in einem Interview scharf gegen die erste Enzyklika Papst Benedikts XVI.: „’Deus caritas est’, betont die Enzyklika zu Recht. ‚Deus et iustitia est’, erinnert die Neue Politische Theologie.“ Es muss daher für Metz eine Genugtuung gewesen sein, als Papst Benedikt im Zuge seines letztjährigen Österreichbesuchs im Wiener Konzerthaus von einem Primat der „Mystik des offenen Blicks und damit der unbedingten Wahrnehmungspflicht für die Lage der anderen“ sprach – hatte Metz doch den Begriff einer „Mystik der offenen Augen“ in kritischer Auseinandersetzung mit Karl Rahner selbst eingeführt.

 

Erschienen in „Die Furche“, 31. Juli 2008



Henning Klingen
Wer steht für die unschuldigen Opfer ein?

 

Ein Gespräch aus Anlass seines 80. Geburtstages mit Johann Baptist Metz 


in: Orientierung 72 (2008), S. 148-150.

 

Herr Prof. Metz, Ihre eigene theologische Biographie ist vor allem mit dem Namen Karl Rahners verknüpft. Welche Rolle hat er, hat seine Theologie für Sie selbst gespielt?

 

In der Tat habe ich meine zentrale theologische Prägung durch meinen Lehrer und Freund Karl Rahner erfahren. Über ihn habe ich mich eingefädelt in den Traditionsstrang katholischer Theologie. Als Rahner 1984 starb, galt er vielen als der bedeutendste und einflussreichste katholische Theologe seiner Zeit und als eine gewaltige Herausforderung und Inspiration für seine Kirche. Dabei hatten seine Einsprüche immer die Gebärde einer rettenden Kritik. Für die gilt freilich auch: Wer retten will, muss wagen. Rahners Treue zum Zweiten Vatikanischen Konzil, zu dessen Theologie er einen kaum zu überschätzenden Beitrag geleistet hat, war eine offensive, in die Zukunft blickende Treue. Gleichwohl scheint er heute vielen fern und fremd geworden. Deshalb möchte ich an seine hintergründige Präsenz in der gegenwärtigen Theologie erinnern: Wenn nämlich die katholische Theologie heute schon wieder anderes sieht und weiter sieht als er, so nicht zuletzt deswegen, weil er sie mit seiner "anthropologischen Wende" der Gottesrede auf die Problemhöhe der Zeit und damit in eine produktiv-kritische Auseinandersetzung mit der Moderne geführt hat wie kaum ein anderer zuvor. Und wenn ich ihn zuweilen einen "Klassiker" der modernen katholischen Theologie nenne, dann nicht, um ihn zu historisieren, sondern um zu betonen, daß Rahner ein Theologe ist, von dem man auch dann noch lernen kann und soll, wenn man schon zurückzutragen und zu widersprechen begonnen hat.

 

Sie selbst haben - wie Sie sagen - bereits früh begonnen zurückzufragen und zu widersprechen. Was war der Anlass Ihres Widerspruchs, was waren die Reibepunkte?

 

Widersprochen habe ich Rahner insbesondere im Blick auf den philosophischen Ansatz der von ihm initiierten "anthropologischen Wende" in der biblischen und christlichen Gottesrede. So notwendig diese Hinwendung zum konkreten Menschen in der Theologie ist, so wenig sah ich es als zielführend, sie rein bewusstseinsphilosophisch, d.h. "transzendental", zu vollziehen, wie Rahner dies gemacht hat. Diese "anthropologische Wende" muss in meinen Augen vielmehr von vornherein mit Blick auf den Menschen in Geschichte und Gesellschaft - also "dialektisch" - verfahren. Ich habe dieses Anliegen mit dem Stichwort "Politische Theologie" bezeichnet - zunächst unbekümmert genug ob der Missverständnisse, die der semantische Druck der "klassischen" Politischen Theologie (von der Stoa bis zu Carl Schmitt) auf "meine" Theologie ausüben würde. Inzwischen gibt es hinreichend Literatur zu dieser Bezeichnungsfrage. Mir geht es allemal um Theologie: um die Frage nach den öffentlich vertretbaren Grundlagen der Rede vom Gott der biblischen und christlichen Traditionen in dieser Zeit.

 

Damit haben Sie bereits das Stichwort genannt: Sie gelten als "Vater" der "Neuen Politischen Theologie", deren Grundfrage - wie Sie selbst sagen - die Frage nach den öffentlich vertretbaren Grundlagen der Gottesrede in dieser Zeit ist. Wie hat sich bei Ihnen herauskristallisiert, daß es eines neuen Ansatzes bedurfte? Was waren Ihre Gesprächs- und Diskurspartner?

 

Zum lebensgeschichtlich-biographischen Hintergrund dafür, daß die Rede vom Menschen und der Menschheit nicht in abstrakter, geschichtsferner Universalität geschehen dürfe, habe ich schon des öfteren Auskunft gegeben. Hier will ich nur kurz auf die philosophischen Einflüsse und Auseinandersetzungen bei der Entfaltung dieses theologischen Ansatzes im Gedächtnisraum des Christentums hinweisen. Karl Rahner hatte mich in den frühen sechziger Jahren in die Internationale Paulus-Gesellschaft eingeführt, die sich schließlich immer mehr auf Christentum-Marxismus-Diskussionen konzentrierte, nicht zuletzt mit Marxisten des "Prager Frühlings" - ein Gespräch, das bekanntlich durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag 1968 ein abruptes Ende fand. Mich haben diese marxistischen Positionen vor allem als Konzept einer "säkularen Theodizee" interessiert. Ich wollte der politischen Kultur diese Theodizeeperspektive nicht ersparen, wollte sie freilich auch noch anders als im Marxismus zur Sprache bringen, nämlich immer und unbedingt auch als Frage nach dem Leid der Anderen, dem Leid gar der bisherigen Feinde und als Frage nach den vergangenen Leiden, an die kein noch so leidenschaftlicher Kampf der Lebenden versöhnend rühren kann. Wichtig wurden für mich dabei die persönlichen Gespräche mit Ernst Bloch und dann insbesondere mit den Frankfurtern. vorweg mit Theodor W. Adorno und - bis heute - mit Jürgen Habermas, von dem ich mir immer noch ein spätes Buch zu Walter Benjamin erhoffe. Erwähnen möchte ich noch kurz, daß es nicht die Theologie war, sondern die heute gern geschmähte Atmosphäre der 68er Jahre, die mir eine allzu geschmeidige theologische Rede von der Geschichtlichkeit menschlicher Existenz ausgetrieben hat, indem sie mich mit ihren kritischen Fragen zur "Unfähigkeit zu trauern" in die Konfrontation mit der konkreten Geschichte selbst gezwungen hat, mit jener öffentlichen Geschichte, die einen so katastrophischen Namen wie Auschwitz trägt. Immer wieder habe ich mich seitdem gefragt, warum man unserer Rede von Gott eine solche Katastrophe, wie überhaupt die himmelschreienden Leidensgeschichten der Menschen so wenig ansieht und anhört. Gegen eine von allen Gefahren ausgebügelte Eschatologie suchte ich den Kern der biblischen Apokalyptik zu erinnern, der nicht von zelotischen Untergangsphantasien geprägt ist, sondern der um eine Wahrnehmung der Welt bemüht ist, die das "enthüllt" und "aufdeckt", was wirklich geschieht - gegen die in allen religiösen und metaphysischen Weltanschauungen immer wieder auftauchende Neigung, die Opfer unsichtbar und die Schreie unhörbar zu machen.

 

Was ist das Politische an der Neuen Politischen Theologie? Und welche Einsprüche erhebt sie heute gesellschaftlich, aber auch innertheologisch?

 

Politisch ist hier zunächst ganz schlicht im Sinne von "öffentlich-belangvoll" zu verstehen. Dieser "politische" Ansatz der Theologie wendet sich gegen die Selbstprivatisierungssymptome in der Theologie und im Christentum. Er suchte zunächst jene Selbstprivatisierungstendenzen kritisch aufzubrechen, mit denen die Theologie undialektisch auf den Geist der europäischen Moderne, auf das Auseinandertreten von Religion und Gesellschaft im Zuge der politischen Aufklärung und der dadurch bedingten "neuen Öffentlichkeit" reagiert hat. Inzwischen macht er darauf aufmerksam, daß es heute ganz neue Gefahren der Selbstprivatisierung des Christentums überhaupt und seiner Institutionen gibt - angesichts des durch die Globalisierung verschärften Pluralismus und angesichts einer dadurch bedingten strikt pluralistischen Öffentlichkeit.

 

Wenn Sie auf diese Weise die Politische Theologie als theologisches Kritik- und "Reformprojekt" beschreiben, drängt sich die Frage auf, wo und wie sich die Politische Theologie neben aller notwendigen Kritik noch um die tatsächliche Rede von Gott bemüht.

 

Die Neue Politische Theologie möchte nichts anderes sein als die Gestalt einer heute geforderten fundamentalen Theologie. In ihrem Kern schlummert eine Frage und ein Thema, das in der Sprache der Schule "Theodizee" heißt: die Frage nach Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, "seiner" Welt. Diese Frage ist hier nicht formuliert im Sinn einer griechisch-philosophischen Theodizee, sondern im Stil der apokalyptisch-biblischen Theodizee, in der diese Frage als Schrei in der Situation und der Sprache der Glaubenden selbst auftaucht, so daß sich darin das Gottesgedächtnis der biblischen und christlichen Traditionen von vornherein mit der Passionsgeschichte der Menschheit verbindet. An der Wurzel der christlichen Gottesrede schlummert immer auch ein Gerechtigkeitsthema, die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig und ungerecht Leidenden. "Deus caritas est", betont die erste Enzyklika Benedikts XVI. zu Recht. "Deus et iustitia est", erinnert die Neue Politische Theologie. Nun entstand aber im Christentum, das doch nicht trennen soll, was in Gott verbunden ist, von Anfang an eine Theologie, die das Gerechtigkeitsthema - um das Mindeste zu sagen - schwächt. Von Anfang an versucht die christliche Theologie die die biblischen Traditionen zutiefst beunruhigende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden allzu schnell umzusprechen in die Frage nach der Erlösung der Schuldigen. Christologie als Soteriologie besänftigt, ja stellt den Schrei still nach der großen Gottesgerechtigkeit, obwohl doch dieser Schrei auch zum mystischen Hintergrund des Christentums gehört - bis aller Hunger und Durst nach dieser Gerechtigkeit gestillt sein werden in jener Auferweckung der Toten, die den Christen im Glauben an die Auferweckung des Christus verheißen ist. So lese ich jedenfalls die Weltgerichtsparabel von Matthäus 25.

 

Damit haben Sie das für die Politische Theologie und Ihr Schaffen stets zentrale Thema angesprochen. Wie lässt sich daraus in einer auch moralisch hochgradig ausdifferenzierten pluralen Gesellschaft eine dennoch zusammenbindende und umfassende Perspektive entwickeln, ohne der Gefahr zu erliegen, das Leiden nur mimetisch zu verdoppeln?

 

Unter dem Stichwort der "Compassion" und mit Berufung auf die "Autorität der Leidenden", der ungerecht und unschuldig Leidenden, habe ich versucht, in der unwiderruflich anerkannten Vielfalt der Religionen und Kulturen ein alle verpflichtendes und in diesem Sinn wahrheitsfähiges Kriterium der Verständigung und des Zusammenlebens zu formulieren und mit Hilfe der "memoria passionis" zu begründen, jener meines Erachtens einzigen universalen Kategorie, die uns nach der Religions- und Ideologiekritik der Aufklärung, nach Marxismus und Nietzsche und den postmodernen Fragmentierungen der Geschichte überhaupt noch geblieben ist und die es ermöglicht, die Welt als Passionsgeschichte der Menschheit zu lesen. Diese gewissermaßen "negative Theologie" der Welt bietet die Möglichkeit, die Rede vom biblischen Gott nicht nur als Kirchenthema, sondern auch als Menschheitsthema zu begreifen, ohne dabei totalitär und antipluralistisch zu werden.

 

Worin liegt konkret das kritische und vielleicht auch nicht-religiösen bzw. säkularen Zeitgenossen einleuchtende Moment, wenn man - wie Sie sagen - die Welt als "Passionsgeschichte der Menschheit" begreift?

 

Ich möchte darauf mit einer Gegenfrage antworten: Was ist es sonst, das unsere Welt auch in diesen Zeiten der Globalisierung in Frieden zusammenhalten kann? Der Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen, diese stärkste Vermutung über die Menschheit, hat ein biblisches Fundament. Seine moralische Wendung, in der er vom Christentum angenommen und mit der Botschaft der unzertrennbaren Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, von Gottesleidenschaft und Mitleidenschaft verkündet wird, lautet etwa: Es gibt kein Leid in der Welt, das uns nicht angeht. So verweist dieser Satz von der elementaren Gleichheit aller Menschen auf die Anerkennung einer Autorität, die allen Menschen zugänglich und zumutbar ist, auf die Autorität der Leidenden, auf eine Autorität, die vor jeder Abstimmung und Verständigung eigentlich alle Menschen, ja alle, ob religiös oder säkular, verpflichtet und die deshalb von keiner humanen, auf die Gleichheit aller Menschen pochenden Kultur und von keiner Religion - auch von der Kirche nicht - hintergangen und relativiert werden kann. Deshalb auch wäre die Anerkennung dieser Autorität jenes Kriterium, das den Religions- und Kulturdiskurs in globalisierten Verhältnissen orientieren könnte. Sie wäre schließlich die Basis eines Friedensethos für eine strikt pluralistische Weltöffentlichkeit, und jedenfalls wäre eine europäische Politik, die sich diesem biblischen Erbe der "Compassion" verpflichtet weiß, mehr und anderes als die pure Vollstreckerin von Markt und Technik und den sogenannten Sachzwängen in den Zeiten der Globalisierung.

 

Was ist Ihr Eindruck von der heutigen theologischen Szenerie in Deutschland? Teilen Sie den Eindruck, daß es zwar einen laufenden theologischen Wissenschaftsbetrieb, jedoch ein gleichzeitiges Fehlen "profilierter" theologischer Ansätze gibt? Und wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die gegenwärtig sich abzeichnende "biographische Welle" in der Theologie ein?

 

Ich vermute, daß Ihre Frage - zumindest auch - auf die Situation der heutigen Bologna-Theologie zielt. Nun bin ich als theologischer "Einzelkämpfer" alten Stils vielleicht nicht hinreichend befugt, über das sogenannte Bologna-Konzept in seinen Folgen für die Geisteswissenschaften und speziell für die Theologie zu urteilen. Für mich lauert in diesem Konzept jedenfalls die Gefahr einer kadettenschulartigen Nivellierung des theologischen Lehrbetriebs an den Universitäten. Und die kann man meines Erachtens auch nicht einfach durch eine "biographische Welle" in der Theologie ausräumen. Jedenfalls muss hier, wie auch bei den aktuellen Ermunterungen zu mehr theologischer Essayistik, genauer zugesehen werden. Gewiss, Theologie ist nicht ohne Biographie. Das unterscheidet sie von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie. Es geht dabei allerdings nicht um die fabulierfreudige Ausbreitung von privaten Lebensgeschichten. Der biographische Zug der Theologie empfängt seine Legitimation ausschließlich aus der Frage, wie denn der heute immer schmerzlicher klaffende Riss zwischen Glaubenswelt und Lebenswelt zu überwinden sei, wie also die Glaubenssprache auch in unserer säkularen Welt als Erfahrungssprache zu formulieren und zu behaupten sei. In diesem Sinn habe ich schon vor Jahrzehnten die Frage "Theologie als Biographie?" gestellt und in meiner Laudatio zu Karl Rahners 70. Geburtstag 1974 von seiner Theologie als "mystischer Biographie eines Christenmenschen" gesprochen. Hier türmen sich natürlich die Rückfragen. Es geht vor allem um die kommunikative Würde von Erinnerung und Erzählung, von zwei Kategorien, die ich seit langem dem theologischen Diskurs immer wieder aufzudrängen suche. Schließlich sind wir Christen in der Wurzel immer eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft geblieben.

 

Setzen Sie sich mit einem solchen Ansatz nicht selbst einem Vorwurf aus, den Sie ihrerseits mehrfach der heutigen theologischen Szene gemacht haben, nämlich dem, die Moderne und die Aufklärung unterlaufen oder sie sozusagen "postmodern" überholen zu wollen, ohne durch sie hindurchgegangen zu sein?

 

Lassen Sie mich zu meinem Plädoyer für eine narrativ-praktische und anamnetische Grundverfassung des Christentums und seiner Gottesrede dies sagen: Wo sich die Moderne im Namen von Aufklärung der geschichtlichen Dialektik von Erinnern und Vergessen ganz und gar zu entziehen sucht, wo sie also die sogenannte "Dialektik der Aufklärung" zugunsten einer erinnerungs- und erzählfreien Rationalität preisgibt, gründet sie die modernen Aufklärungsprozesse zwangsläufig auf ein Vergessen, und sie stabilisiert damit die heute zu beobachtende kulturelle Amnesie mit ihrem äußerst schwachen Bewusstsein von dem, "was fehlt". Lassen Sie mich das kurz auf ein aktuelles Problem beziehen. Beim gegenwärtigen Streit um das "Experiment Mensch" kann eine moderne und aufgeklärte Rationalität ihren humanen Charakter gegenüber der zunehmenden Dominanz rein technischer Rationalität nur sichern, wenn sie sich bei ihrer Rede von "dem Menschen" auf eine erinnerungsgespeiste Semantik stützt, also auf eine bereits in unsere menschliche Sprache eingelagerte Erinnerung. "Der Mensch", wie er uns bisher bekannt und anvertraut ist, ist mehr als sein eigenes Experiment, er bleibt auch - und zwar fundamental - sein eigenes Gedächtnis. Er verdankt sich nicht nur seinen Genen, sondern auch seinen Geschichten. Will er hinter sich kommen, muss er nicht nur auf seine Experimente bauen, sondern sich auch etwas erzählen lassen. Die damit angedeutete Unterscheidung zwischen technischer und anamnetischer Rationalität ist nicht nur wichtig für die Theologie, sondern auch für jede Anthropologie, für die "der Mensch" mehr ist und mehr bleiben soll als das letzte noch nicht völlig - biotechnisch oder neurotechnisch - durchexperimentierte Stück Natur.

 

Was sind Ihres Erachtens die liegengebliebenen Fragen, vielleicht die "Leerstellen" der Neuen Politischen Theologie?

 

Im Rückblick auf mein eigenes theologisches Schaffen muss ich eingestehen, dass ich - und das mag vielleicht verwunderlich klingen - der Frage des Kirchenrechts bzw. der Verfassung der Kirche zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet habe. Zur Erklärung nur so viel: Ich habe mich oft gefragt, warum die Kirche sich eigentlich mit unschuldigen Opfern immer schwerer tut als mit schuldigen Tätern. Diese Frage ist nicht rein spekulativ auszuräumen, auch nicht mit moralischen Appellen, sondern eigentlich nur öffentlich-rechtlich, im Blick auf das Rechtsverständnis und das Verfassungsverständnis der Kirche. Gibt es aber ein kirchliches Rechtsverständnis, das unter dem Primat einer rechtschaffenden Gerechtigkeit für die ungerecht und unschuldig leidenden Opfer steht? Oder ist das durch die strukturelle Überzeichnung des Kirchenrechts und der kirchlichen Verfassung durch das antike römische Recht von vornherein vereitelt? Solchen und ähnlichen Fragen bin ich bis heute ausgewichen. Aus mangelnder juristischer Kompetenz? Aus theologischer Blindheit für den Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit? Oder einfach aus mangelnder theologischer Zivilcourage?

 

Das heißt, das Gerechtigkeitsthema müsste Ihres Erachtens neu und vertieft in die öffentlich-rechtliche Verfasstheit der Kirche, in das Kirchenrecht eingepasst und eingewoben werden?

 

So könnte man sagen, wobei Christen gewiss nicht nur Praktiker, sondern auch Mystiker dieser Gerechtigkeit sind - aber eben Mystiker "mit offenen Augen", Mystiker einer Compassion, einer Mitleidenschaft, die meines Erachtens heute auch zum wichtigen Kennwort der Nachfolge Jesu geworden ist. Diese Mystik der Gerechtigkeit ist keine antlitzlose Leidensmystik, wie in zentralen Formen ostasiatischer Mystik. Sie ist vielmehr eine "antlitzsuchende" (Benedikt XVI.) Mystik. Sie führt in die Begegnung mit den Antlitzen der Leidenden. Die dabei sich abzeichnende Erfahrung wird zum irdischen Vorschein der Nähe Gottes in seinem Christus: "Herr, wann hätten wir dich je leidend gesehen? Und er antwortet ihnen: Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten getan habt, habt ihr mir getan. Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr mir nicht getan."

 

Im Original kann das Interview hier heruntergeladen werden:

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Wer steht für die unschuldigen Opfer ein?
Ein Gespräch mit Johann Baptist Metz aus Anlass seines 80. Geburtstages
JG 72_HEFT 13-14_DATUM 20080731.PDF.pdf
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Frömmigkeit – eine Annäherung „vom Anderen her“

 

Dass der Begriff wie die Lebenshaltung der Frömmigkeit heute mehr und mehr erodiert, sollte weniger der säkularen Gesellschaft, als vielmehr dem institutionalisierten Christentum und der Theologie zu denken geben. Denn die – nicht zuletzt theologisch beförderte – semantische Aufweichung zur bloßen religiösen Gefühligkeit hat der Frömmigkeit ihre biblische Speerspitze genommen: das Leben „vom Anderen her“ (B. Liebsch) im Horizont einer rettenden Erinnerung an die Zukunft

 

Von Martin Heidegger stammt bekanntlich der Satz „Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . Ohne Heidegger für eine heute relevante, zeitdiagnostisch sensible und gesellschaftskritisch vernehmbare Theologie vereinnahmen oder gar rehabilitieren zu wollen, lassen sich für die hier gewählte Perspektive auf Frömmigkeit als biblisch grundierte Lebensweise im Horizont des Anderen dennoch drei zentrale Aspekte aus dieser Formulierung herausarbeiten.

 

So macht Heidegger zum einen deutlich, dass das Denken, die Vernunft, nicht ohne die Dimension des Anderen, desjenigen, den man „be-fragt“, dem man sein Interesse zuwendet, auskommt. Diese Hochschätzung des Anderen, des Gegenübers, christlich gesprochen: des Nächsten fließt bei Heidegger in den Begriff der Frömmigkeit ein. Zum zweiten drückt sich in der Hochschätzung der Frage und damit zugleich auch des Anderen eine Form der Demut, der Ergebenheit vor und für das Andere, letztlich für Gott, aus. Zum dritten schließlich zeigt sich in diesem Satz die Offenheit des Horizontes, in welche eine biblisch verwurzelte Frömmigkeit einweist, denn bedeutet das Fragen nicht gerade im Kontext einer Hingabe an den Gefragten auch eine letzte Offenheit, eine letzte Unbestimmtheit, eine Leerstelle, die nicht an der Oberfläche bleibt, sondern bis tief in das Denken selbst hineinreicht? Diese drei Aspekte sollen im Folgenden in Form kurzer theologischer „Erkundungsgänge“ skizziert werden.

 

Frömmigkeit als Leidenschaft für den Anderen

 

1944 schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer aus der Nazihaft: „…unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“ . Bonhoeffers eigenes Leben, insbesondere seine letzten zwei Jahre, in denen er sich aktiv am Widerstand gegen Hitler beteiligte, geben davon Zeugnis, dass es sich sowohl beim Beten als auch beim Tun des Gerechten nicht um zwei unabhängige Momente handelt, sondern um einen einzigen, beide Elemente verbindenden Vollzug christlichen Glaubens. Die Frömmigkeit, die Bonhoeffer lebte, erkannte, wie er in einem anderen Brief aus der Haft schreibt, das Jenseitige nicht im „unendlichen Fernen“, sondern im Nächsten. Gott erfuhr er darin „mitten in unserem Leben jenseitig“ , ohne ihn zugleich zu bagatellisieren und zu säkularisieren.

 

Damit rückt der Frömmigkeitsbegriff nah an jenen biblischen Begriff heran, der als ein durchgängiges neutestamentliches Motiv und Bindeglied und damit als ein Kern der biblisch-jesuanischen Botschaft verstanden werden kann: Nachfolge. Angesichts der Tatsache, dass „Frömmigkeit“ an sich kein biblischer Begriff ist, findet der gesuchte Begriff einer politischen Frömmigkeit vom Anderen her in eben jenem Begriff der Nachfolge seinen Anknüpfungspunkt. Seine biblische Entsprechung findet der Bonhoeffersche Konnex von Gebet und Tun des Gerechten, also Nachfolge, bei Matthäus, wo Jesus auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot antwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten“ (Mt 22,37-39). Nachfolge bekommt damit einen unbedingten, nahezu uneinlösbaren Charakter, weist sie den Christen doch in eine Diesseitigkeit ohne kontemplative Hintertür ein, in radikale Proexistenz. Um diese Radikalität wusste im Übrigen auch Bonhoeffer, als er appellierte: „Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben [fast könnte man sagen: aufgegeben, H.K.] werden.“

 

Johann Baptist Metz goss diese dialektische Durchdringung von Hoffnung im Horizont eschatologischer Erwartung und weltlicher Nachfolge in die Formel der unbedingten Zusammengehörigkeit von „Mystik und Politik“ : „Die Radikalität der Nachfolge ist mystisch und politisch zugleich.“ In Abgrenzung zu seinem Lehrer Karl Rahner bezeichnete Metz die geforderte Mystik entsprechend als „Mystik der offenen Augen“ , im Gegensatz zu einer inwendig-vergeistigten „Mystik der geschlossenen Augen“. Die sich darin ausdrückende, der Frömmigkeit als gelebte Mystik der offenen Augen eigene, genuin-praktische Flanke unterscheidet den gesuchten Frömmigkeitsbegriff damit zugleich auch von der Kontemplation, die die geistige Versenkung in ein Ich einübt, welches es überwinden (und gerade nicht in Intersubjektivität praktisch auszubilden) gilt.

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich die heutige Wiederentdeckung der Spiritualität auch nicht mit dem Maßstab eines biblisch fundierten Frömmigkeitsbegriffs messen, neigen diese Spiritualitätsformen doch dazu, die im gleißenden Licht der unüberwindbar scheinenden gesellschaftlichen Probleme und Herausforderungen schmerzenden Augen zu schließen – und sich damit letztlich zu Komplizen der herrschenden Apathie und Hilflosigkeit zu machen.

 

Frömmigkeit als Leidenschaft für Gott

 

Biblisch betrachtet ist Frömmigkeit die eigentliche Grundhaltung des Menschen vor Gott. Indem er als fascinosum et tremendum erfahren wird, bildet er zugleich den Horizont der biblischen Lebenswirklichkeit. Dass diese Frömmigkeit als ganzheitlicher Akt des Lebens im Horizont Gottes nichts mit Unterwürfigkeit zu tun hat, demonstrieren dabei insbesondere jene biblischen Figuren, die das Ja zu Gott durch die Anfechtung hindurch zu sprechen vermögen, jene Figuren, die ihre Leidenschaft für Gott, ihre Gottespassion, gerade darin erweisen, dass sie leidenschaftlich auch gegen ihren Gott schreien, dass sie aufrechten Hauptes gehen, um freiwillig vor ihm knien zu können. Es sind dies z.B. die Figuren Hiob und Jona, die an ihrem Gott zu verzweifeln, ja nahezu an ihm zu zerbrechen drohen und deren Gottesleidenschaft sie zum Widerstand gegen Gott selbst motiviert. Ebenso findet diese Passion ihren Ort in den Psalmen, in der Abfolge von Lobpreis und Klage, von Widerstreit und Hingabe, von himmelschreiender Gottverlassenheit und dem Vertrauen auf Gottes rettendes Handeln, dem Vertrauen auf den guten Hirten.

 

Frömmigkeit in diesem Sinne hat also nichts mit Unterwürfigkeit zu tun, sondern beschreibt eine Lebenshaltung, die sich weniger am Aufleuchten des Heiligen in der Profanität zu ergötzen sucht, als vielmehr das Fehlen jeglicher Anzeichen des Heils und die Abstinenz von Gerechtigkeit beklagt – biblische Frömmigkeit ist sozusagen praktische, gelebte „Theodizeeempfindlichkeit“ (J.B. Metz). Ihren eigentlichen Motor, ihre Widerstandsressourcen, findet eine solche Frömmigkeit als Gottespassion in der Ausständigkeit des Gottesreiches, in der Ungleichzeitigkeit einer zwischen Verheißung und Ausständigkeit zerrissenen Existenz.

 

„Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte“ , so sagt es Bonhoeffer. Doch erwarten wir Christen tatsächlich noch etwas? „Bieten wir Christen“, so fragt Metz, „der Welt nicht das peinliche Schauspiel von Menschen, die zwar von Hoffnung reden, aber eigentlich nichts mehr erwarten? Ist das christliche Leben noch mit zeitlich orientierter Erwartung und Sehnsucht aufgeladen?“ Haben wir nicht längst die Augen im Gebet fest geschlossen und damit den Anderen aus unserem Wünschen und Hoffen verbannt? Haben wir damit nicht zugleich auch erfolgreich die letzten Reste unbeherrschter Leidenschaft für Gott getilgt?

 

Bonhoeffer war erfüllt von dieser Gottespassion: selbst angesichts niedergehender Bomben und der drohenden Gefahr seiner eigenen Hinrichtung dichtete er „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ – nicht als Beschreibung und gleichsam spirituelle Überhöhung seiner eigenen Lage, sondern vielmehr als Herausforderung Gottes, als Bitte um Gott selbst: Gott solle sich endlich als jener erweisen, der er zu sein versprochen hat, als jener Gott, der uns wunderbar geborgen sein lässt: Ein Anruf, wie ihn Psalm 44 in entwaffnender Dramatik vor Augen führt, wenn der Psalmist ruft: „Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Warum verbirgst du dein Gesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis?“

 

Als Leidenschaft für Gott bedeutet Frömmigkeit daher vor allem eines: Existenz aus Gottespassion und gerade deshalb in permanenter Zerrissenheit und Anfechtung.

 

Frömmigkeit als Leidenschaft für den offenen Horizont

 

Der biblische Glaube drängt in die Praxis, drängt dazu, politisch in dem Sinne zu werden, dass er einer demokratischen Rechtsgemeinschaft etwas geben kann, was sie – in Anlehnung an das bekannte Diktum Ernst Wolfgang Böckenfördes – selbst nicht zu garantieren, geschweige denn zu reproduzieren vermag: ein demokratisches Ethos, welches das Individuum der liberal-politischen Gleichgültigkeit dem Anderen gegenüber entreißt und die Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit vom Blick auf die je eigenen Rechte hin auf die Gerechtigkeit für den Anderen lenkt. Was der biblische Glaube als gelebte Frömmigkeit damit für den säkular-demokratischen Rechtsstaat zu bieten hat, ist gerade nicht das derzeit so angesagte Beharren auf angeblich-christlichen Wurzeln, auf einer Orientierung und Sicherheit spendenden Kraft, die aus einem nurmehr subkutan in die Lebenswelten hineinreichenden Christentum ausgehen soll – es ist dies vielmehr eine „desintegrierende“ Kraft, die immer wieder gewohnte Strukturen aufbrechen hilft, eine messianische Kraft, die gerade dort, wo Gesellschaft scheinbar reibungslos „funktioniert“, die Frage nach dem unabgegoltenen Anrecht auf Gerechtigkeit für die Opfer und Untergegangenen stellt.

 

Quelle dieser unterbrechenden Kraft ist eine Form der Erinnerung, die das Leiden gerade nicht einreiht in eine evolutionär fortschreitende Zeit, die die Toten gerade nicht verloren gibt, ihnen nicht gleichgültig gegenüber steht und ihnen nicht das Stimmrecht entzieht. Es ist dies ein Eingedenken, in dessen Kraftfeld sich der Mensch als „Über-Lebender“ (B. Liebsch) in bleibender Verwiesenheit auf und Verantwortung für den Anderen begreifen lernt; es ist dies damit auch eine gefährliche Erinnerung, da das Leben zu einem versehrten Leben wird, wo es, den Tod des Anderen erinnernd, der Nichtigkeit des Todes zu nahe gekommen ist. Zugleich jedoch enthält diese Erinnerung einen rettenden Funken, insofern sie von der Gegenwart fordert, dass nicht sich jene Katastrophalität wiederhole, auf der die Gegenwart ruht und insofern sie auf diese Weise den Imperativ verstetigt, dass das Leiden nicht mehr sei.

 

In dem Maße also, in welchem Gegenwart mit Vergangenheit aufgeladen ist, trägt sie auch bereits die Erinnerung an eine Zukunft in sich, die von Gerechtigkeit zeugt, die – wie es insbesondere die biblische Apokalyptik herausgearbeitet hat – die Vision eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“ enthält.

 

Frömmigkeit bezeichnet in diesem Kontext eine Lebensweise, die an eben dieser Möglichkeit einer anderen, einer Gegen-Geschichte, aus der Erinnerung heraus festhält. Biblische Frömmigkeit ist sozusagen „Frömmigkeit der Leerstelle“; sie ist das Harren in glühender Erwartung, die sich ihren „Möglichkeitssinn“ (R. Musil) bewahrt hat und sich nicht durch vorschnelle Antworten beruhigen lässt. Tradition stellt in diesem Zusammenhang im Übrigen gerade nicht eine zeitlose Verstetigung des Status quo und eine unkritische Unterordnung unter scheinbar bewährte Gepflogenheiten dar, sondern die Verstetigung der Hoffnung auf die Möglichkeit einer anderen Geschichte, die in Traditionen erzählt wird. Frömmigkeit als Ausdruck einer gelebten Tradition ohne Traditionalismus wird in diesem Verständnis zu einer Form der Einübung in eben diese Hoffnung – und damit zu einer gleichzeitigen, verstetigten Form der Selbstkritik: So ist das „Ja“ zu Gott, welches die Frömmigkeit unter den schrecklich erschwerten Bedingungen dieser Zeit spricht, zugleich Widerstand gegen eben diese Zeit in ihrer gnadenlosen Unerlöstheit, Widerstand gegen ein gesellschaftliches Fortschreiten, welches jene vergisst, über jene hinwegsteigt, die zu Opfern des Fortschritts werden und wurden.

 

Die Hoffnung freilich ist kein „Besitz“, kein starkes Argument, welches der Christ in Heilsgewissheit selbstsicher vor sich hertragen kann. Seine Hoffnung ist und bleibt eine geborgte Hoffnung, sozusagen jener Türspalt, welcher für den Messias geöffnet bleiben muss – und welcher damit gegen alle politischen Schließungsversuche verteidigt werden muss, die im Wahn politisch-technokratischer Machbarkeit die Möglichkeit zur Selbstkritik und zur immer neuen Selbstüberschreitung hin zu Anderen zu vergessen drohen. Die amerikanische Politologin Agnes Heller hat diese Horizont-öffnende Option in einer bekannten Wendung wie folgt ausgedrückt: „Der leere Stuhl wartet auf den Messias. Wenn jemand diesen Stuhl besetzt, kann man sicher sein: es handelt sich dabei um den pervertierten oder verlogenen Messiah. Wenn jemand den Stuhl wegnimmt, dann ist die Vorführung zu Ende und der Geist wird die Gemeinde verlassen. Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht gebrauchen, aber solange man den Stuhl belässt, wo er ist, genau dort im Zentrum des Raumes, wo er in seiner warnenden, vielleicht sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politischen Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen. Zumindest steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen. Alles Übrige ist Pragmatismus.“

 

Von der Notwendigkeit eines neuen Ortes der Frömmigkeit

 

Wo die moderne, heute angeblich boomende Spiritualität den Menschen in sich selbst „ver-rückt“, ihn zu geistigen Reisen ermuntert, „ver-rückt“ Frömmigkeit in ihrer hier skizzierten, biblisch eingeholten Bedeutung ihn in die konkrete Nachfolge hinein. Kein Wunder also auch, dass in einer komplexen, ausdifferenzierten Welt, in welcher angesichts der globalen politischen, wirtschaftlichen wie sozialen Herausforderungen ein ebensolches globales Denken gefordert ist, die Nachfolge als radikale Lebensform „vom Anderen her“ wenig zeitgemäß und angesagt wirkt.

 

Wenn das Ich, welches zwischen Ökonomie und Politik zerrieben zu werden droht und dem Ungewissheit zur einzigen Konstante geworden ist , in dieser Situation die Spiritualität als gänzlich neue Erfahrung, als Gefühligkeit in einem sonst gefühllosen Alltag, empfindet, so ist das freilich nicht partout schlecht. Dennoch bleibt aus Sicht radikaler biblischer Nachfolge-Frömmigkeit diese Form der Spiritualität ein Krisenphänomen, eine halbierte Frömmigkeit. Es bedarf daher neuer Orte und Räume, um den biblischen Konnex zwischen Mystik und Politik neu zu beseelen und zu beleben.

 

Vor fast 30 Jahren wies Johann Baptist Metz der hier bezeichneten Frömmigkeit einen konkreten Ort, eine konkrete Form der Existenzweise zu: So waren es damals seines Erachtens insbesondere die Orden, in denen eine Nachfolge-Frömmigkeit eingeübt werden könne, die Mystik und Politik zu einer neuen unterbrechenden Kraft verbindet – und von denen zugleich die Strahlkraft einer Erneuerung dieses semantisch so verkümmerten Begriffs ausgehen müsste. Ist sie vielleicht auch heute wieder gekommen, drängender denn je, die „Zeit der Orden“?

 

Hier können Sie den im Jahr 2006 in der Zeitschrift "Wort und Antwort" erschienenen Beitrag inklusive aller Fußnoten im Original herunterladen:

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Frömmigkeit - Vom Anderen her
Wie wäre heute eine zeitgemäße Form der Frömmigkeit jenseits von Frömmelei und bloßer Innenschau zu verstehen? - Ein Beitrag für die Zeitschrift "Wort und Antwort"
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