Seit rund einem Monat wird nun bereits intensiv über die Zulässigkeit der Beschneidung von Jungen im Judentum und Islam diskutiert. In Deutschland, aber auch in Österreich. Die Argumente sind weitgehend ausgetauscht, der Deutsche Bundestag wird im Herbst einen Gesetzesentwurf vorlegen, der die Straffreiheit sicherstellen soll, und in Österreich können sich Religionsvertreter auf die Zusage der Politik berufen, nicht an der bestehenden Straffreiheit rütteln zu wollen. Alles in Butter also? Nicht ganz, es bleibt ein schaler Beigeschmack, ein Unbehagen - nicht im Blick auf die rechtliche Debatte, sondern im Blick auf das Traditionsverständnis...
Ein Urteil des Kölner Landgerichts sorgt gegenwärtig für großes Aufsehen und hitzige Debatten - und dies nicht nur in Deutschland: das Gericht hatte Ende Juni bekanntlich erstmals in Deutschland eine Beschneidung als strafbare Handlung gewertet. Der Grund: Die Beschneidung sei nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt und entspreche nicht dem Kindeswohl. Das im deutschen Grundgesetz festgeschriebene Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit überwiege das Grundrecht der Eltern auf freie Religionsausübung. Diese würde durch das Urteil nicht unzumutbar beeinträchtigt, urteilten die Richter.
Die Kritik von Seiten der Religionsgemeinschaten folgte auf dem Fuße. Jüdisches Leben in Deutschland werde dadurch "grundsätzlich für unerwünscht" erklärt, hieß es etwa von Seiten des "Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit". Der Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff sprach in einer unmittelbare Reaktion von der Gefahr für die Religionsfreiheit.
Intensive Feuilleton-Debatte
Es folgte eine intensive Debatte im Feuilleton mit zum Teil sehr differenzierten Stellungnahmen, die sich für die Beibehaltung der Beschneidung aussprachen - u.a. von katholischer Seite.
Auf den Tag genau einen Monat nach dem "Ausbruch" der Debatte in Deutschland, sahen sich nun am 27. Juli auch österreichische Spitzenvertreter der Religionsgemeinschaften genötigt, in einer - erstmaligen - gemeinsamen Pressekonferenz vor die Mikrophone zu treten, um der "antiisemitischen, antiislamischen, atheistischen und a-religiösen" Kampagne entgegenzutreten, wie es Fuat Sanac, der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich sagte.
Hinkender Import
Dabei hinkt der Import der Debatte aus Deutschland in Österreich: denn zum einen ist die Rechtslage in Österreich - anders als in Deutschland - eindeutig: So ist die Beschneidung zwar nicht ausdrücklich geregelt, "nach herrschender Lehre" jedoch straffrei, wie das Justizministerium mitteilte. Auch sieht die Politik bislang keinerlei Anlass, dies zu ändern. Zum anderen haben sich in Österreich sogleich unselige Kräfte des Themas bemächtigt, die eine tiefe Diskussion der eigentlichen Fragen - etwa nach dem Traditionsverständnis, nach der Wertigkeit der Unversehrtheit des Körpers in den Religionen oder nach dem Verständnis des Kultischen in den Religionen - verunmöglicht haben.
Was war geschehen? Aufgegriffen und befeuert wurde die Debatte in Österreich vor allem durch die "Initiative gegen Kirchenprivilegien" und die Initiative "Religion ist Privatsache". Anti-Kirchenprivilegien-Sprecher und Medienzampano Niko Alm bezeichnete die Praxis der Beschneidung bei einer eigens einberufenen Pressekonferenz als "illegal", da sie gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoße. Die herrschende Praxis würde in der Frage der Beschneidung das Recht auf Religionsfreiheit zugunsten der Religionsgemeinschaften auslegen, "um ihre Privilegien abzusichern".
Und ganz nach dem Motto "dümmer geht immer" legte die "Initiative Religion ist Privatsache" nach der Pressekonferenz von Vertretern von Judentum, Islam und Christentum nach: „Jene Religionsgemeinschaften, die gemeinsam unter ÖVP-Regie für eine der brutalsten und religiös intolerantesten Diktaturen der Welt derzeit Imagepflege betreiben, versuchen die religiös motivierte Beschneidung, ein Akt der physischen sowie psychischen Körperverletzung, ausgerechnet mit dem Argument der Religionsfreiheit zu rechtfertigen“, meint Initiative-Vorstand Heinz Oberhummer in Anspielung auf das geplante „König-Abdullah-Zentrum“ in Wien, das vom Königshaus Saudi-Arabiens finanziert wird. Und noch mehr: "Medizinische Scheinargumente, Antisemitismusvorwürfe und eben der Verweis auf alte Traditionen, die als 'Religionsfreiheit' verpackt werden, sind nicht dazu geeignet, seriöse Argumente, die den Grundrechten entspringen, zu entkräften“.
Zwei Verständnisformen von Tradition
Das alles könnte man als Geschwätz und Getöse abtun und - einmal mehr - das Fehlen einer kritischen deliberativen, medialen Öffentlichkeit in Österreich bedauern. Der Punkt, auf den ich hingegen hinausmöchte, ist ein anderer, weniger politischer. Denn natürlich hat der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker Recht, wenn er unterstreicht, dass in der Debatte eine prinzipielle religionsfeindliche Haltung aufscheine, "zu der auch die christlichen Kirchen nicht schweigen können“ und in denen sie „Solidarität mit der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft“ zeigen müssten. Aber: steht diese Solidarität nicht in Gefahr, eigene theologische, mühsam errungene Erkenntnisse über Bord zu werfen?
Was meine ich damit? Nun, einer der zentralen Gründe für die Verstehensbarriere, die sich bei der Pressekonferenz zwischen den Vertretern von Judentum und Islam auf der einen und den - weitgehend - säkularen Medienvertretern auf der anderen Seite fand, war bzw. ist meines Erachtens ein inkompatibles Traditionsverständnis. Durch und durch säkulare Menschen sind in der Regel auch per se posttraditional. Sie mögen Traditionen pflegen - aber sie erkennen in ihnen keine, sie im Extremfall gar an die Grenze der rechtsstaatlichen Verantwortbarkeit führende Quelle ihrer Existenz und Identität. Tradition ist ihnen das Liebgewonnene, die augenzwinkernde Schrulligkeit, in der sie sich einen kleinen Rest von Kindlichkeit bewahren.
Und auf der anderen Seite? Dort verweisen Fuat Sanac und Oskar Deutsch für die islamische und jüdische Seite auf die jahrtausende alte Tradition der Beschneidung. Eine Tradition, die aus ihrer Sicht an sich Autorität und Geltungskraft besitzt, die nicht notwendigerweise einer argumentativen Fundierung bedarf. In der Argumentationslinie liegen Verweise auf Studien, denen zufolge Beschneidung Säuglingen und Kindern keinen Schaden zufügt, auch verweisen sie - zurecht - darauf, dass die körperliche Unversehrtheit ja auch im Fall von Piercings, Impfungen, Ohrringen oder ästhetischen Eingriffen nicht gewahrt bleibt, und doch nicht zum Thema einer Kampagne wird. Oder wie Ulrike Weiser in der "Presse am Sonntag" konstatiert: "Immerhin fällen Eltern täglich Entscheidungen, die für Kinder auch körperliche Langzeitfolgen haben, gute wie schlechte. Skurrile Ernährungsvorschriften, Passivrauchen, extremer Sport: Die Liste der Dinge, die Eltern Kindern zumuten, ist lang." Gewiss, dennoch bleibt eine argumentative Leerstelle - denn allein der Verweis darauf, dass die Unversehrtheit ja auch von anderer Seite missachtet wird, rechtfertigt noch nicht das eigene Tun.
Autorität ohne geschichtliche Brechung?
Man kann es drehen und wenden - wenn die rechtliche Lage geklärt und die Frage nach dem Kindeswohl leidlich ausdiskutiert ist, bleibt immer noch die Frage nach der Tradition. Und hier sind es m.E. die kirchlichen Vertreter, die sich - bei aller gerechtfertigten Solidarisierung aus religionspolitischer Sicht - doch fragen lassen müssen, ob sie im Kern denn dieses Verständnis einer Traditions-Autorität mittragen können. Es mag sie gewiss geben, die innerjüdische und mit feiner Klinge geführte Diskussion über das Verhältnis von Tradition, säkularer Vernunft und Hermeneutik. Allein, in der gegenwärtigen Debatte kommen diese Punkte - leider - allesamt nicht zur Sprache.
Dass ich mit diesem Unbehagen nicht allein bin, zeigt auch ein Essay in der Netzzeitung "perlentaucher". Dort zeigte sich die Theologin und Politikerin Eva Quistorp davon irritiert, dass Renate Künast und Kurt Beck zur Verteidigung der Beschneidung selbst wörtlich aus dem Buch Genesis zitierten und diese damit zum gesetzten religiösen Recht erhoben. So hoch haben selbst CSU-Politiker in den 50er Jahren das Verständnis von Tradition und Schrifttreue nicht gehängt, so Quistorp.
Und sie bringt ihr Anliegen auf den Punkt: "Natürlich geht es mir als Theologin nicht um einen Rationalitätsfundamentalismus, wie ihn der Schriftsteller Navid Kermani in der Debatte mit Recht kritisiert, und geht es mir als grüne Politikerin nicht darum, eine religiöse Tradition einfach 'par ordre du Mufti' abzuschaffen. Aber sie muss sich dem öffentlichen gesellschaftlichen Dialog stellen, was das Urteil in Köln erst einmal bewirkt hat. Und sie sollte intern offen für historisch-kritische Interpretationen, Reformen und Pluralität sein."
Tradition, aber auch Lehramt und Schrift
Gleiches gilt m.E. auch für die Vertreter der christlichen Kirchen, die sich - wie in Österreich der Generalsekretär der katholischen Bischofskonferenz, Peter Schipka, und der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker - mit den jüdischen und muslimischen Vertretern solidarisieren, ohne zumindest auf die unterschiedliche Gewichtung der Tradition hinzuweisen. Denn gewiss ist die Tradition eine der wesentlichen Glaubensquellen auch im Christentum. Das Tradierte ist das durch die Zeiten Getragene - aber neben diesem vermeintlich durch die Zeiten unberührt rein gebliebenen Glaubensbestand, stehen Lehramt und Schrift als gleichwertige Quellen.
Und alle drei Quellen können nach gängiger katholischer Lehre nicht ohne einander. Und alle drei wissen um die Vernunft als Bindeglied. Und schließlich weiß jeder in der Moderne angekommene Gläubige, der seine sieben Sinne beisammen hat, dass kein noch so vermeintlich reiner Traditionsbestand durch das Feuer der Historie, durch die bitteren Leidenserfahrungen in der Geschichte hindurch retten lässt, ohne dass er an dieser Geschichte selbst nicht Schaden nimmt, sich neu justiert oder gar zerbricht.
Wenn der Wiener Fundamentaltheologe Kurt Appel im "Standard" meint, dass sich in der Debatte das "Unvermögen" ausdrückt, "Traditionen, die immer auch ambivalent und schmerzhaft sind, zu ertragen", so ist das zwar nicht falsch, aber eben auch nur die halbe Wahrheit.
Tradition als eschatologische Größe
Um es mit dem Münsteraner Theologen J.B. Metz zu sagen: "Nur wer aufrecht geht, kann auch freiwillig knien." Nur wer der Gebrochenheit des Traditionsbegriffs heute ins Auge blickt - gerade auch im Christentum -, der kann frei werden für ein neues, kritisches Verständnis von Tradition - gebrochen durch die säkulare Vernunft aber auch durchkreuzt von Leidenserfahrungen, die die Reinheit der bloßen Lehre gewissermaßen bloßstellen.
Wer also nur Tradition sagt, sagt meines Erachtens theologisch zu wenig und unterschlägt die theologiegeschichtliche Genese des Traditionsbegriffs mit all seinen Brechungen gerade im 20. Jahrhundert.Tradition - um es noch deutlicher theologisch zu wenden - ist ein Versprechen. Das eschatologische Versprechen von Einheit, Ganzheit; das Versprechen einer Gott-Mensch-Analogie, in der die Unähnlichkeit zwischen Gott und Mensch eben nicht mehr - wie bei Thomas v. Aquin - größer ist als die Ähnlichkeit. Tradition, die Bräuche, Riten, Lehre an sich transportiert, bleibt tote Tradition, wo sie nicht auch dieses Versprechen tradiert. Tradition ist die historische Gerinnungsform des biblischen Versprechens, dass Gott sich einst als er selbst erweisen wird - ein Versprechen, dass im Neuen Testament in der drängenden, dringenden Formel "Maranatha! Komm, Herr Jesus" mündet.
Das alles würde eine vor allem als Sommerloch-Geschichte taugende Beschneidungs-Debatte wohl überfordern - eine schmerzhafte, Unbehagen verursachende Leerstelle ist es dennoch.
Siehe zur Beschneidungs-Debatte in Österreich auch meinen Beitrag für den "Deutschlandfunk", gesendet am 2. August 2012. (Download: Arbeitsproben Hörfunk)
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fkaineder (Sonntag, 29 Juli 2012 13:02)
Vom Zug aus: Ein ganz wesentlicher Gedanke, der hier zur Sprache gebracht wird. Es braucht gemeinsame Überlegungen zu Traditionen aus der Zukunft heraus.
Henning Klingen (Sonntag, 29 Juli 2012 13:26)
"Überlegungen zu Traditionen aus der Zukunft heraus" - ein schöner Gedanke. Dazu in Analogie zu einem Zentralgedanken der Neuen Politischen Theologie: Tradition ist Erinnerung an die Zukunft.
Gottfried (Montag, 30 Juli 2012 11:06)
lange tradiert und viel strapaziert der Satz dazu "Tradition ist nicht die Aufbewahrung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers."
Lüdemann (Donnerstag, 02 August 2012 10:31)
Eine lesenswerte und sehr differenzierte theologische Sicht auf die Debatte. Leider werden die Belange der betroffenen Kinder hier ausser Acht gelassen. Es geht im Kern um Körperverletzung an Kindern und nicht vorrangig um den Kampf von Tradition und Moderne. Wir dürfen das Kindeswohl nicht in einer akademischen Debatte über die Rolle der Religion in sekularen Staaten untergehen lassen. Die Diskussion um Menschenrechte sollte auch nicht immmer wieder als Sommerloch-Thema bagatellisiert werden.
Deutsche Wurst ist unbeschnitten! (Donnerstag, 02 August 2012 10:44)
http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/infos-fuer-eltern/schuetzen-sie-ihren-unbeschnittenen-sohn.html
HaWeHa (Mittwoch, 28 November 2012 23:53)
Beschneidung ist ANTI-Religiös. In dem Sinne, dass sie dem Schöpfer G-D, der eine Kreation "wohlüberlegt" (in der Anlage perfekt) zeugt, widerspricht. Jeder Christ bewundert das Wunder der Kreation. Das Funktionieren des Hoch-Komplexen TEMPELS der Kreation, eines Lebendigen Organismus'. Das Abschneiden.eines Körperteils und die daraus resultierenden Lebenslangen Folgen eingeschränkter Sexueller Erlebnisfähigkeit ist eine Verhöhnung der Vollkommenen Schöpfung.
Das Beschneidungsgebot ist aber mehr: Es ist eine EIGENE Religion, ein Blutopfer, welches einem Pharaonischen Fruchtbarkeitskult huldigt. Es ist eine PARASITÄRE Religion, die dem Schöpfer G-D übergestülpt wurde. Die Judaeische "Begründung", der Mensch habe den letzten Schritt zur Vervollkommnung der unvollkommen geschaffenen Kreation zu vollziehen, ausgerechnet durch Reduktiv-Chirurgie am Kindlichen Männlichen Genital, ist ein matter Erklärungsversuch und nicht durch Heiliges Schrifttum gestützt. Heutzutage wissen wir stattdessen, dass die Rabbinische "P"riesterschaft ("P" steht für die Spätere Autorenschaft des PentaTeuch) höchstselbst, das Polytheistische Blutopfer in das Element "J" (Buch des "J"ehovisten) einfügte - das Verhängnisvolle Kapitel, welches heute als "Bereshit17" bzw "Genesis17" bekannt ist, wurde erst 5 Jahrhunderte später von ihnen interkaliert, sozusagen. Bitte studieren Sie die "Dokumentarische Hypothese", welche die Evolution des PatchWorks des PentaTeuch gut erklärt.
Als Christ sollte man sich m.E. klar sein, dass Jesus(der)Christus durch sein FREIWILLIGES, für seinen EIGENEN TEMPEL DER KREATION, SELBST entschiedenes BLUTOPFER am Kreuz einen Neuen Bund mit den Menschen geschlossen hat. Wert erhält die Nach-Folge von Jesus(der)Christus ausschließlich durch Freiwilligkeit. Nicht durch eine zwangsweise vorgenommene Einschnitzung eines Vielgötter-Kultes in Männliche Minderjährigen- oder Baby Genitalien. (Mit der dahinter in Wirklichkeit versteckten Idee, durch die Entfernung des Praeputiums sündhafte Lust zu reduzieren und dadurch eine Art von Spiritueller Hygiene zu erzwingen).
Jeder Christ VERHÖHNT durch seine Falsche Tol(l)eranz zu dem Heidnischen Ritual, einer Schändung des Tempels der Kreation, dem Schöpfer in die Schuhe geschoben, den Neuen Bund. Dann kann er meintz'wegen gleich so KONSEQUENT sein, alle Elemente des ALTEN GESETZES" zu befolgen und z.B. ungehorsame Kinder, vorehelich geschlechtlich aktive Töchter, und nicht zu vergessen, Homosexuelle, zu töten.