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Bleiben oder Gehen? Diese Frage haben sich in den vergangenen zwei Jahren wohl Hunderttausende Katholiken angesichts des Missbrauchsskandals in der Kirche gestellt. Mehr als 180.000 entschieden sich allein 2010, dem Jahr, in dem die Krise ausbrach, fürs Gehen. Im vergangenen Jahr belief sich die Zahl der Austritte in Deutschland mit rund 130.000 noch immer auf Höchstniveau. Blutet die Kirche langsam aus? ...

 

Auch wenn die absoluten Zahlen dramatisch klingen – allein in Deutschland gehören immer noch rund 25 Millionen Menschen der katholischen Kirche an, die evangelischen Kirchen kommen auf rund 24 Millionen Gläubige. Anders gesagt: Zwei Drittel der Menschen im Land zählen sich zu einer christlichen Konfession.

 

Dennoch sind die Zahlen alarmierend. Denn sie zeigen ein massives Problem auf: In wenigen Jahren wird die Zahl der "o.K.‘s", derjenigen Menschen "ohne Konfession", also ohne jede religiöse Bindung, die Zahl der Gläubigen eingeholt haben. Ganz zu schweigen von den ostdeutschen Bundesländern. Das Problem besteht für die Kirchen zunächst in einem massiven Einnahmenverlust, der es ihnen zusehends schwerer macht, ihr soziales Dienstleistungssystem aufrecht zu erhalten. Aber es besteht auch darin, dass durch den Schwund der Gläubigen der Eindruck entsteht, dass die Kirche den Menschen offenbar kaum mehr etwas – oder gar das Falsche – zu sagen hat. Mit Goethes Faust gesprochen: Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

 

Neue pastorale "Lieblingsspezies"

 

In dieser Situation haben Pastoraltheologen wie Bischöfe ein neues pastorales Schlagwort und eine neue "Lieblingsspezies" entdeckt: die "Neuevangelisierung" als Konzept einer missionarischen Kirche – und dessen Zielgruppe: die Wiederkehrer und die kirchlichen "Newcomer", jene, die erst im Erwachsenenalter in die Kirche eintreten. Auf sie setzen sie ihre Hoffnung auf dem Weg der Kirche von einem "Traditionschristentum" hin zu einem "Entscheidungschristentum". Doch ist die Hoffnung tatsächlich berechtigt, auf den Wiederkehrern und Neo-Katholiken die Kirche der Zukunft aufzubauen?

 

Zahlenmäßig sind sie wenige, zu wenige für eine Kirche, die sich als Volkskirche versteht. 7.163 Wiedereintritte verzeichnete die kirchliche Statistik im vergangenen Jahr. Ein Jahr zuvor, 2010 – dem Jahr des Aufbrechens der Missbrauchskrise – lag ihre Zahl noch höher, bei 7.401. Dazu kommen noch rund 3200 Übertritte aus anderen Religionen beziehungsweise Konfessionen. 2.700 von ihnen kamen im Vorjahr aus der evangelischen Kirche. Macht unter dem Strich rund 10.000 Personen, die Jahr für Jahr im reifen Alter und nicht per Kindertaufe den Weg in die katholische Kirche finden. Zu wenig, um die 130.000 Austritte pro Jahr auszugleichen.

 

Für den Pastoraltheologen Paul M. Zulehner besteht kein Zweifel: Grund Nummer 1 für die enormen Austrittszahlen sind weiterhin die Nachwirkungen des Missbrauchsskandals, gepaart mit einem starken Vertrauensverlust angesichts einer von der Kirchenleitung verschleppten Reformdebatte. Dennoch zeigen laut Zulehner Studien aus Österreich: Es lohnt sich, um diese Ausgetretenen zu kämpfen.

 

Viele Austritte waren spontane Reaktionen

 

Denn etwa die Hälfte gibt an, im Affekt gehandelt und den Austritt aus einer spontanen Reaktion heraus erklärt zu haben – und nun trauern sie dieser Entscheidung nach. "Ich bin ausgetreten und hatte von Anfang an das Gefühl, das stimmt nicht für mich", bestätigt etwa eine wieder eingetretene Ärztin im Interview mit der katholischen Presseagentur Kathpress diesen Befund. Und so sprießen allerorts Wiedereintritts-Kampagnen und niederschwellige Angebote zur Kontaktaufnahme.

 

Jede Diözese bietet Ansprechpartner oder hat eigene Beauftragte und Arbeitsstellen für den Erstkontakt mit Ein- und Beitrittswilligen. Über 300 Ansprechpartner – von Priestern über Mitarbeiter der City-Pastoral bis hin zu Ordensleuten – in allen 27 Bistümern Deutschlands betreuen die Interessenten und begleiten diese auf ihrem Weg in oder zurück in die katholische Kirche. Koordiniert werden einige der überdiözesanen, vor allem auf das Internet setzenden Angebote von der "Arbeitsstelle für missionarische Pastoral" der Deutschen Bischofskonferenz.

 

Niederschwelliger Erstkontakt

 

Im Juli 2012 startete die Arbeitsstelle die neue Kontaktseite www.internetseelsorge.de, um angemessen im Internet präsent zu sein, das "auch für die Kirche verstärkt zu einem Raum der Pastoral geworden" ist. Seit 2009 hat die Arbeitsstelle auch die Leitung des bereits seit dem Jahr 2003 laufenden Projekts www.katholisch-werden.de übernommen. Derzeit wird an einem neuen Konzept gefeilt. Rund 1000 Kontaktaufnahmen per E-Mail verzeichnet das Internetportal pro Jahr.

 

Den Erfolg der Seite erklärt Stefan Kemmerling, der sie als theologischer Referent seit 2003 mit aufgebaut hat, mit der Anonymität des Internets: "Oft fühlen sich Menschen unwohl bei dem Gedanken, mit einem Fremden über das sehr private Thema des Kircheneintritts zu sprechen. Damit Interessenten ihre erste Hemmschwelle überwinden können, bietet die katholische Kirche mit dieser Website eine Alternative im Internet an." Viele Menschen betrachten laut Kemmerling den Gang zum eigenen Pfarrer als Hürde. Da springt die Website ein, denn: "Es ist wichtig, dem Interessenten den ersten Kontakt so einfach wie möglich zu machen."

 

Über einen Postleitzahlensucher können Interessierte aus dem Netz heraus in den Regionen kirchliche Kontaktpersonen in ihrem Umfeld ermitteln. Die kirchlichen Ansprechpartner stehen extra für die Menschen zur Verfügung, die sich mit dem Wunsch beschäftigen, in die Kirche (wieder)einzutreten. So entsteht ein direkter Draht bis in das jeweilige Bistum hinein. Klöster, Citypastoralprojekte und Kirchengemeinden arbeiten in dem deutschlandweiten "Projekt Kirchenwiedereintritt" zusammen. Niederschwelligkeit ist das Ziel. Eintritt überall, elektronische „Pfarrfinder“ machen es möglich.

 

Häufigster Grund für die Rückkehr in die Kirche sind konkrete Anlässe, Lebenssituationen oder gar persönliche Gotteserfahrungen. Bedenken und Gründe, die zum Austritt führten, treten in diesen Situationen in den Hintergrund. Aber auch darauf weisen die Verantwortlichen sowie die Theologen hin: Der Kircheneintritt ist keine Bagatelle. Kein Eintritt in einen Verein oder Club. Denn Kirche ist nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen, sie ist immer auch selbst Sakrament und ein Vorgeschmack des Kommenden.

 

Der Eintritt ist keine Bagatelle

 

Daher gehen einem Wiedereintritt auch intensive Gespräche voraus, bei denen nicht nur die Zeremonie der Wiederaufnahme besprochen wird, sondern persönliche Motive des Aus- und Wiedereintritts reflektiert werden. Doch was bewegt Menschen tatsächlich, den Schritt in die Kirche zu tun? Trotz allem Ja zu sagen. "Die Tür zur Kirche war die Kunst. Und der Schlüssel war die Geburt und die Taufe meines Sohnes", beschreibt etwa der Künstler Gerd Mosbach seinen Weg, der ihn im Jahr 2002 in die Kirche führte.

 

Aufgewachsen ohne religiöse Prägung, stellte er sich nach einigen Jahren im Berufsleben "auch nach einigen Rückschlägen und Krisen" die Frage, ob das bereits alles gewesen sei. "Ich habe mir dann die Frage gestellt, ob der christliche Glaube wirklich Antwort auf meine innere Leere gibt und er ein echtes Bedürfnis darstellt. Das habe ich mir positiv beantwortet und dann den Schritt gemacht." Nach einer intensiven Vorbereitungsphase, dem sogenannten Katechumenat, wird die Taufe für viele Neuankömmlinge somit zu einem bewegenden Ereignis.

 

Und doch bleibt der Glauben für sie durch die Reife ihres bisherigen säkularen Lebens gebrochen: "Meine Erkenntnis, an Gott zu glauben, muss ich mir jeden Tag wieder neu erkämpfen. Ich muss immer neu über mein Verhältnis zu meinem Glauben und zu Gott nachdenken. Es gibt Menschen, bei denen sprudelt es heraus. Bei mir ist das etwas zäher."

 

Zäh, aber umso tragfähiger, sagen die Theologen, die ebenso wie Bischöfe zunehmend auf die Entscheidungschristen“setzen. Und in der Tat: Wenn man nachfragt, stößt man oftmals auf tiefe Gründe für diese Entscheidung. "Ich habe gespürt, dass ich mich mit der Gottesfrage nochmals auseinandersetzen will", sagt etwa Jakob Glashüttner, ehemaliger Produktionsleiter an der Grazer Oper und "Wiederkehrer". Die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Büchern Joseph Ratzingers, des heutigen Papstes, habe in ihm "eine tiefe Sehnsucht geweckt, dabei zu sein".

 

Und auch da könnten sich die Hoffnungen der Kirchenleitung erfüllen: Denn in den Aussagen der Wiederkehrenden ist vor allem eine starke Konsequenz, Selbstsicherheit und damit auch Bereitschaft, für die Kirche zum Zeugen des Glaubens zu werden, zu spüren. "Ich möchte dieses Ja zu Jesus in seiner Gemeinschaft, der Kirche, mit all seinen Konsequenzen gehen", sagt Glashüttner.

 

Bleiben - trotz allem

 

Dennoch, der Zweifel bleibt steter Begleiter und kritisches Korrektiv. Und er ist selbst im Kernsegment der kirchlich Sozialisierten längst angekommen und nagt an Seelen und Herzen. So publizierte etwa der Münsteraner Theologe Tiemo Rainer Peters unlängst eine tiefe persönliche Reflexion und zugleich Bilanz eines langen Theologen-Lebens unter dem Titel "Zwischen Gehen und Bleiben". Er bleibt, bis heute, trotz enormer Anfechtungen, wie er schreibt.

 

Dabei hat sein Bleiben – und damit spricht er wohl vielen Noch-Katholiken aus der Seele – Trotz-Charakter: "Ich bleibe in der Kirche, weil ich mich nicht halbverrichteter Dinge von der ‚Baustelle’, die sie immer noch ist, davonstehlen will. Ich mag das Unfertige, Fragmentarische. Ich bleibe in der Kirche, weil die Kirche in ihrer teilweise vormodernen Hilflosigkeit mich braucht, auch meine Kritik.“

 

Letztlich hat die Kirche einen großen Trumpf im Ärmel, der auch bei Zweiflern und Kritikern immer wieder "sticht": Sie hat Antworten auf die großen, vielleicht sogar die einzigen wirklichen Fragen im Programm: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn meines Lebens?

 

Fragen, die in ihrer Schlichtheit jedes Leben auf den Kopf stellen können, die ins Innerste führen – und die zugleich heute bei vielen Menschen in besonderer Dramatik auf Antworten warten: Denn die Suche nach Orientierung in einer komplexer werdenden Welt, nach Sicherheit, wohl auch nach Geborgenheit, wo die Globalisierung den Menschen entgrenzt – dies alles bedrängt Menschen von heute mehr denn je, und es lässt sie zu Perlentauchern in einem bewegten Meer von Antworten aus den unterschiedlichsten Strömungen und Richtungen werden.

 

"Endlich zur Welt und mir selbst kommen"

 

Man muss kein Religionssoziologe sein, um die christlichen Antworten, die – gebrochen und durchkreuzt von Leiderfahrungen, von Anfechtungen und Zweifeln – oft nur angedeutet werden können, als reizvoll, vielleicht gar als überzeugend zu betrachten. Und wer angesichts dieser Fragen und Antworten in der Kirche bleibt, wer zurückkommt oder gar neu ankommt, der mag, abermals mit Tiemo Rainer Peters gesprochen, diesen Schritt begründen mit einem großen, einem kraftvollen Argument:

 

"… weil ich nicht vorhabe, dieses grandiose Angebot, das mein Denken produktiv überfordert,

wieder preiszugeben, um am Ende vielleicht haltlos und kopfüber in der 'Erlebnisgesellschaft'

unterzutauchen, die an mir gar kein Interesse hat, bleibe ich in der Gemeinschaft der Getauften – 'aufgetaucht', das heißt, endlich zur Welt gekommen – und zu mir selbst."

 

Erschienen in: LiMa 18/2012

 

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