"Prophetischer Pragmatismus"

Cornel West gehört zu den schillerndsten "öffentlichen Intellektuellen" und Kulturkritiker der USA. Er ist ein charismatischer Redner und Berater bis in höchste politische Kreise hinein, Harvard und Princeton streiten sich um ihn; er produziert mit Jugendlichen Hip-Hop-CDs und spielte zweimal im Blockbuster "Matrix" mit. Mit seiner Mischung aus zivilgesellschaftlichem Aktionismus, philosophisch-theologischer Kompetenz und persönlichem Charisma begeistert und spaltet er gleichermaßen. (Audio-Rezension "Deutschlandfunk")

 

Anders gesagt: Cornel West ist ein Phänomen - er ist Philosoph, Prediger, Prophet. Dabei ist der 1953 in Tulsa im Mittleren Westen der USA geborene West mit afroamerikanischer Herkunft stets auch ein bescheidener, gläubiger Baptist geblieben. Mit einem untrügbaren Gespür für soziale Ungerechtigkeiten. "Ich wurde und bin ein philosophisch gebildeter 'bluesman', der sich mit der frohen Botschaft Jesu Christi befasst", sagt West über sich selbst.

 

Um so mehr mag es überraschen, dass West außerhalb des akademischen Zirkels in Europa kaum jemand kennt. Dabei war es kein geringerer als Jürgen Habermas, der zuletzt bei einem Philosophen-Gipfel an der Universität in New York 2009 vor West den Hut zog und nach dessen Vortrag sagte: "Ich fühle mich ein wenig in einem Dilemma. Man hat das Gefühl, dass jeglicher akademische Diskurs albern ist und man sofort auf die Straße gehen sollte."

 

Eine Irritation, die wohl typisch ist für das Werk und Leben Wests: Sofort auf die Straße gehen - für Gerechtigkeit, für eine Wiedergewinnung der politischen Souveränität des Volkes über die Geldmärkte - ein Gefühl, dass im krisengeschüttelten Europa in diesen Tagen viele Menschen verspüren. Entsprechend könnte Wests Botschaft auch hierzulande auf fruchtbaren Boden fallen.

 

Buch führt in Denken Wests' ein

 

Die Ackerfurche für diesen Samen bereitet ein Buch, das nun erstmals auf Deutsch in das Denken Wests' einführt. Es trägt im Titel die Chiffre für das gesamte Schaffen Wests: "Prophetischer Pragmatismus. Eine Einführung in das Denken von Cornel West". Denn genau das will West sein: Ein Prophet, der nicht das Ende der Welt voraussagt, sondern - ganz biblisch - Missstände aufdeckt um zu verändern. Und zugleich ein Pragmatist, also ein Mensch, der sämtliches Denken und Philosophieren unter den Primat der Praxis, des verändernden Tuns stellt.

 

Praxis, das ist für ihn demokratische Praxis, also das aktive Einbringen in den öffentlichen Raum. Und darin ist West ein Meister. Er solidarisierte sich mit der Occupy-Bewegung, lädt mit einer eigenen Website zur "Poverty-Tour" - also zu einer Armuts-Tour durch Amerika ein - und hundertausende "Follower" hängen an seinen virtuellen Lippen in Facebook und Twitter.

 

Grund genug also für die kontinentaleuropäische Philosophen-Szene, West als Scharlatan zu brandmarken und mit Nichtbeachtung zu strafen. Zu Unrecht, wie das Buch "Prophetischer Pragmatismus" zeigt. Seine Autoren sind alle samt anerkannte Philosophen - allen voran der Direktor des "Forschungsinstituts für Philosophie Hannover", Jürgen Manemann. Cornel West ist für ihn einer jener Hoffnungsträger, die es schaffen könnten, verkrustete Philosophie-Strukturen auch in Deutschland aufzubrechen und zu einer neuen Allianz zwischen Zivilgesellschaft und Intellektuellen zu führen. Die weiteren Autoren sin Yoko Arisaka, Volker Drell und Anna Maria Hauk.

 

Nihilismus am Werk

 

Lernen kann man von West dabei etwa den Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus. Wenn nämlich die Politik heute den Menschen Optimismus predigt, dann enthält sie ihnen das wichtigste vor: nämlich Hoffnung auf grundlegende Veränderung. Denn die Krise, die auch Europa befallen hat, ist den Autoren zu Folge eine Krise tiefer Verunsicherung. Ein "Nihilismus" habe weite Kreise der Bevölkerung ergriffen, der sich in Hoffnungs- und Ziellosigkeit ausdrückt, in Apathie und Resignation. West sieht diesen Nihilismus auch in Amerika am Werk - und will mit Vehemenz und einer Mischung aus Aktionismus, Philosophie und einem gehörigen Schuss biblischer Prophetie herausführen.

 

Als Philosoph erinnert West die Philosophen an die Herkunft der Philosophie, die in der Antike immer auch Lebenskunst war. Und er erinnert die Politik daran, dass sie stets mehr als "Realpolitik" ist, dass ihr ein normatives Moment eignet. Philosophie ist daher für West immer "mehr" als das Denken in der Studierstube - Philosophie ist eine Existenzform, eine Lebensweise, die - wie er in Anlehnung an Theodor W. Adorno formuliert - das Bedürfnis in sich trägt, "Leiden beredt werden zu lassen". Denn dies ist "Bedingung aller Wahrheit". Seine Philosophie ist daher eine Philosophie "der Mitleidenschaft", schreiben die Autoren der Einführung.

 

Philosophie des Blues und Funk

 

West protestiert also "im Namen der Philosophie gegen Philosophen, die über Philosophie reden, aber selbst nicht mehr philosophieren, die den Unterschied zwischen talking philosophy und doing philosophy längst eingeebnet haben." Philosophie ist demnach für West keine trockene Materie - sie ist "Blues" und "Funk", wie er es formuliert, sie braucht Mut - Mut "zu denken, zu lieben, zu hoffen". Eine Kampfansage also zugleich an all jene, die Philosophie als analytisches Geschäft betreiben, die gar glühendes Hoffen und Drängen, Tragik und Leiden aus der Philosophie in die Religion verschieben wollen.

 

Aber mehr noch: "Seine Philosophie zielt auf eine permanente Verschärfung der Demokratie, deren Motor die Anerkennung der Würde des Menschen ist. Zur Demokratisierung der Demokratie bedarf es deshalb Lautverstärker, die die Nöte der Marginalisierten zu Gehör bringen" - Und diese Fähigkeit besitzt West wohl wie nur wenige andere: Lautverstärkung auf allen Kanälen der öffentlichen Kommunikation.

 

Philosoph auf der Überholspur

 

Wests lebendiges Philosophieren hat dabei "etwas Missionarisches, in gewisser Weise mit dem Apostel Paulus Vergleichbares". Denn West lebt stets auf der Überholspur, in Eile. Er ist "von einem Auftrag beseelt, der durch drei machtvolle Kräfte beschleunigt wird: die Familie, eine sokratische Spiritualität, die zur Wahrheitssuche motiviert, und eine christliche Spiritualität, die dazu herausfordert, Zeugnis abzulegen für Liebe und Gerechtigkeit."

 

Geboren am 2. Juni 1953 in Tulsa/Oklahoma, wuchs er als Schwarzer in einem abgetrennten Stadtviertel auf. Die Erfahrung des Rassismus im Nachkriegsamerika - mit seinen Nachwehen und bleibenden Folgen bis heute - haben West zutiefst geprägt; Verbitterung oder gar Hass haben sie jedoch in ihm nie ausgelöst. Eher das dringende Verlangen, die Situation zu verändern und der amerikanischen Demokratie den Spiegel vorzuhalten: einen Spiegel nämlich, in dem man sieht, dass die Gleichheit aller in der Demokratie für Weiße mehr gilt als für Schwarze. Es geht ihm also um die "Demokratisierung der Demokratie". Entsprechend zählt etwa sein Werk "Race matters" zu den bekanntesten und wichtigsten Büchern Wests.

 

Doch West blieb nicht bei diesem Thema stehen. Er studierte in Harvard die großen europäischen Philosophen, ging schließlich nach Princeton, kehrte dann als Dozent nach Harvard zurück. Eine erste volle Lehrverpflichtung als Professor erhielt er schließlich am Union Theological Seminary in New York. Seit 2012 lehrt West - nach verschiedenen akademischen Wechseln - erneut dort.

 

Sensibilität für das Leiden der Anderen

 

Hier begann er - selbst mit sieben Jahren als Baptist getauft -, seine Vorstellung eines prophetischen Christentums zu entwickeln, das er gegen ein konstantinisches Christentum in Stellung brachte. Kennzeichen eines solchen prophetischen Christentums ist für West eine besondere Sensibilität für das Leiden der Anderen, eine "Theodizee-Empfindlichkeit". Er wehrt sich daher auch gegen alle theologischen Versuche, das Theodizee-Problem theoretisch zu lösen und favorisiert dagegen einen praktischen Umgang mit dem Problem. Entsprechend zählt ein Zitat des amerikanischen Schriftstellers George Santayana zu seinen Lieblingszitaten: "Religion ist die Liebe zum Leben im Bewusstsein der Ohnmacht."

 

Einer religiösen Etikettierung entzieht sich West dennoch strikt: "Ich bin ökumenisch" sagt er auf diese Frage stets, da er sich eher als Kulturwissenschaftler und Kulturkritiker im Ringen mit einem umfassenden religiösen Ethos versteht, denn als Theologen. West: "Ich wurde kein Theologe, und zwar aus dem einen Grund heraus: Ich glaube nicht, dass religiöse Dogmen und Lehren logisch konsistent und theoretisch kohärent wiedergegeben werden können. Der Skandal des Kreuzes erschüttert alle theologischen Anstrengungen. Ich wurde aber auch kein ausgereifter Fachphilosoph, weil ich so viele philosophischen Wahrheiten außerhalb des philosophischen Kanons gefunden habe (...)."

 

Gerade als afroamerikanischer Intellektuelle sieht West seine Aufgabe darin, "das Leid der 'Verdammten dieser Erde' zur Sprache zu bringen". Er will selbst eine Brücke schlagen "zwischen der elitären Welt der US-amerikanischen Universitäten und den sozialen Randbereichen, in denen die farbige Mehrheit wohnt". Er gibt sich daher auch nicht damit zufrieden, "soziale Pathologien" (A. Honneth) zu diagnostizieren, sondern er will "Hoffnungen wiederbeleben, um so den von ihm diagnostizierten Nihilismus zu bekämpfen, den er als die gefährlichste zersetzende Geisteshaltung der Gegenwart begreift."

 

Humanität und Sterblichkeit

 

Wenn West von "Pragmatismus" spricht, so versteht und deutet er ihn in einer ganz speziellen Art und Weise: Pragmatismus bedeutet für ihn die Verknüpfung von Philosophie und Praxis zu einem "Erfahrungswissen". "Pragmatismus hat deshalb nichts zu tun mit bloßer Praktikabilität oder prinzipienlosem Optimismus." Vielmehr stehe im Zentrum des von ihm entworfenen "Prophetischen Pragmatismus" die Frage, "was es bedeutet, ein humanes Leben zu führen". An dieser Frage - so die Autoren des Einführungsbandes - "zerschellt jeder Optimismus", denn schließlich komme "Humanität" von "humare" - also bestatten, beerdigen, begraben. Humanität bezeichne daher die Fähigkeit, den Anderen begraben zu können und sich seiner zu erinnern, so West. "Humanes Leben gibt es nicht losgelöst von der Einsicht, dass Menschen Staub sind."

 

Die Sterblichkeit wird bei West jedoch gerade nicht als Faktum der eigenen Individualität hingenommen, sondern zum Ausgangspunkt eines philosophischen Programms: "Wer fragt, was ein humanes Leben ist, der ahnt, dass die Vorstellung falsch ist, mit dem Tod sei alles vorbei, denn mit dem Tod des Anderen hört der Tod nicht auf. Mit ihm fängt er erst an - der Tod. Humanität bedeutet, nicht nur dem Tod, sondern auch dem Absoluten und dem Tragischen standzuhalten." Menschsein zielt daher darauf ab, "im Angesichte des unausweichlichen Todes zu leiden, zu erschaudern und mutig zu kämpfen".

 

Entsprechend zielt der prophetische Pragmatismus Wests' auf die "Wiederherstellung der Menschlichkeit, der Hoffnung und des Zukunftssinnes." Oder wie es West in einer für ihn typischen Wendung sagt: "Ich versuche lediglich, ein wenig Sinn in der Welt zu finden und Menschen zu lieben, bevor ich sterbe." Die christliche Botschaft, auch die Kirchen als Institutionen verstanden, sind West dabei vor allem "Leuchtfeuer der Hoffnung inmitten der kulturellen und moralischen Krise".

 

Verheutigte Form Kritischer Theorie

 

Damit überschreitet der Pragmatismus "die Grenzen der Fachphilosophie", da er sich jeglichem Methodenzwang entzieht: "Pragmatismus als Methode ist zwar problemlösungsorientiert, zielt aber in erster Linie durch die Hervorhebung der Kreativität des Handelns auf die Freisetzung neuer Handlungen." Pragmatisten wollen also als "Problemlöser" neue Erfahrungen ermöglichen. Damit sind Pragmatisten zugleich stets auch "Anti-Essentialisten", "Anti-Fundamentalisten" und "Externalisten". Treffender gesagt: "Pragmatismus ist Philosophie unter dem Primat der Praxis." - er ist damit "durch und durch eine Handlungstheorie" und eine "Theorie situierter Kreativität" - anders gesagt: Prophetischer Pragmatismus ist die verheutigte Form Kritischer Theorie.

 

Damit ist der Pragmatismus aus Wests Sicht zugleich "die genuine Philosophie einer demokratischen Gesellschaft, weil er die Würde des Individuums, seine Nichthintergehbarkeit und Nichtableitbarkeit anerkennt, ohne dabei das Individuum zu isolieren." Folglich wäre der Pragmatismus "der dritte Weg zwischen libertärem Individualismus und autoritärem Kommunitarismus".

 

"Mit einem Lächeln am Ende"

 

Lesenswert ist das schmale Bändchen im Übrigen allein schon wegen eines ausführlichen und erstmals veröffentlichten Interviews mit Cornel West. In dem Gespräch - geführt 2011 mit dem New Yorker Philosophen und Journalisten Eduardo Mendieta - gibt West Auskunft über seine philosophischen Quellen, die auch die großen europäischen und deutschen Philosophen umfassen. Er schildert seine Kindheit und seinen Kampf gegen einen latent vorhandenen Rassismus, er zeigt, woher Philosophie kommt: aus dem Dreck der Straße, dem "Blues", dem unbedingten Willen, in diesem einen Leben die Welt zum Besseren zu verändern. Wie einst sein Vorbild Martin Luther King.

 

Und so endet das Buch auch mit dem Versuch, sein Projekt in wenigen Worten zusammenzufassen. Prophetischer Pragmatismus, das meint vor allem "Mut, kritisch zu denken", so West. "Mut, zu lieben, und Mut zur Hoffnung vor dem Hintergrund katastrophaler Dunkelheit - aber immer mit einem Lächeln am Ende."

 

Erschienen in: Kathpress-Info-Dienst vom 14. Dezember 2012

 

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