"Widerstand leisten heißt Neues schaffen"

Foto: flickr.com / Jean-Marc Ayrault / CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)
Foto: flickr.com / Jean-Marc Ayrault / CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)

Er wurde zum Stichwortgeber einer ganzen Generation junger, gebildeter, politisch wacher Menschen, die sich mit dem Bestehenden nicht zufrieden geben wollen: Stephane Hessel, in der Nacht auf Mittwoch verstorbener französischer Diplomat und zuletzt "Starautor" und Hoffnungsträger einer neuen politischen Bewegung. Ob "Occupy Wallstreet" oder die "Indignados"-Bewegungen in Portugal, Griechenland und anderswo: kaum eine Protestbewegung, die nicht seine Streitschrift "Empört Euch!" im Gepäck hat. Denn wo Krise zum zeitdiagnostischen Wort der Stunde wird, wo politische Apathie und Fatalismus Überhand nehmen, da wächst mitunter auch das Sensorium für den Umbruch, die Revolte, wie nicht zuletzt die Aufbrüche in den arabischen Ländern in den vergangenen zwei Jahren gezeigt haben.

 

Doch auch in Kontinentaleuropa liegt der Pulverdampf der Revolte in der Luft. "Wutbürger" haben Hochkonjunktur, "Der kommende Aufstand" - ein zeitgleich mit Hessels Schrift erschienenes Pamphlet des "Unsichtbaren Komitees" - ruft gar zum bewaffneten Kampf auf und malt das Szenario eines gänzlich entsolidarisierten und a-sozialen Kontinents an die Wand; Carl Schmitts Definition von Politik als Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden, macht wieder die Runde.

 

Soziale Errungenschaften scheinen vielerorts auf dem Spiel zu stehen und dem Budgetzwang zum Opfer zu fallen. Linke wie Rechte drängt es da zur Polarisierung - Verfalls-Alarmismus links, Neo-Nationalismen rechts. Es ist verrückt, stellte der Sozialphilosoph Helmut Dubiel schon zu Beginn der 1990er Jahre fest: Seit dem Moment des breiten Sieges liberaler Demokratie mit dem Ende des real existierenden Sozialismus scheinen die demokratischen Systeme selbst "Opfer eines eigentümlichen Substanzverlustes" geworden zu sein.

 

Verteidigung der Würde

 

Wie passt Hessel in diese Gemengelage? Gehört er zu den Hoffnungsträgern oder zu den Brandbeschleunigern? Zu ersteren zählt ihn der Theologe und Direktor des "Forschungsinstituts Philosophie Hannover" (fiph), Jürgen Manemann. Wenn Hessel etwa formuliert "Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen", so sei dies kein Aufruf zur gewaltvollen Revolution, sondern vielmehr ein Weckruf, aus politischem Fatalismus und Apathie aufzuwachen und Politik als "Kunst des Unmöglichen" neu zu entdecken. Als Vertreter der Neuen Politischen Theologie sieht Manemann aber auch darüber hinaus Anknüpfungspunkte zwischen Hessel und einer geschichtssensiblen Theologie.

 

So verweist der Theologe etwa auf den Zusammenhang von Empörung, Widerstand und Würde. Empörung allein verkürzte nämlich den Impetus Hessels, der im französischen Titel seines Werkes viel besser auf den Punkt gebracht werde: "Indignez-Vous!" Darin schwinge das Wort Würde bereits mit. Dies bedeute: "Wer widerständig ist, kommt zu sich selbst", so Manemann. Empörung bedeute daher bei Hessel "gerade keinen Aufruf zum 'Wutbürgertum', sondern zur Verteidigung der eigenen Würde".

 

Widerstand und Erinnerung

 

Anknüpfungspunkte sieht Manemann auch in der Wertschätzung der Erinnerung als identitätstiftende und zugleich -durchbrechende Praxis: So habe Hessel seinen Aufruf bewusst vor dem Hintergrund der eigenen biografischen Erfahrungen als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg, als KZ-Häftling in Buchenwald und schließlich als Mitglied der französischen Resistance formuliert.

 

Empörung dürfe daher nicht im luftleeren, geschichtsfreien Raum schweben, sondern brauche eine "Grundierung in einer Memoria-Praxis, in gefährlicher Erinnerung". Geschichte - das zeige Hessels Verweis auf die geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins - sei auch für Hessel Katastrophengeschichte. Dieser wolle Hessels Aufruf jedoch nicht durch Gegengewalt begegnen, sondern durch Hoffnung auf Wandel.

 

Diese Aspekte - die Verteidigung der eigenen Würde durch politisches "Empowerment", die Wiederentdeckung der Politik als Gestaltungskraft für die Zukunft, überhaupt die Wiedergewinnung von Zukunft als Hoffnung und die Betonung der Kraft unterbrechender Leidenserinnerung - seien es daher, die laut Manemann Hessels Denken mit Anliegen moderner Theologie verbinden.

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