"Kirche und Theologie den Tisch decken..."

Foto: Henning Klingen
Foto: Henning Klingen

Papst Franziskus stellt aus Sicht der Kirchengeschichtsforschung einen "Unsicherheitsfaktor" dar; die "Doppel-Heiligsprechung" von Johannes Paul II. und Johannes XXIII. ist "katholisch", weil so zwei sehr unterschiedliche Ausprägungen des Petrusamtes gleichermaßen gewürdigt werden - Zwei große Themengebiete und prononcierte Aussagen des bekannten Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf. Das Interview mit ihm können Sie im Folgenden im Wortlaut nachlesen.

 

Wirkt sich der "frische Wind" unter Papst Franziskus auch auf Ihre Arbeit im und mit dem vatikanischen Archiv aus?

 

Ja, allerdings eher in der Form, dass Franziskus für uns einen "Unsicherheitsfaktor" darstellt. Für die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. war die Öffnung der Archive zur Zeit Pius' XII. vordringlich. Die Phase des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts war für den Deutschen und den Polen, die einer Generation angehörten, die davon lebensgeschichtlich betroffen war, ein wichtigeres Anliegen als für einen Mann aus Argentinien, der jetzt ganz andere Themen ins Zentrum rückt. Im Blick auf die Archivöffnung bringt das nun eine gewisse Unsicherheit hinein: Kommt sie? Kommt sie nicht? Bei Benedikt XVI. wären wir vom Herbst 2014 ausgegangen. Ob sie jetzt überhaupt kommt, weiß niemand, da das für den neuen Papst keine Priorität hat.

 

Um auf Ihr aktuelles Buch "Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte" zu sprechen zu kommen: Wie ist es zu diesem außergewöhnlichen Fund gekommen? Hat man seitens des vatikanischen Archivs nicht versucht, diesen "heißen" Fund unter Verschluss zu halten?

 

Nein, der Papst hat in diesem Fall ein Archiv zugänglich gemacht. Und wenn zugänglich, dann vollständig zugänglich. Dann gibt es auch keine Kontrolle. Dann werden die Bestände ohne Wenn und Aber vorgelegt. Zensur gibt es nicht. Dann kann niemand hinterher diese Bestände zensurieren. Aber angesichts der Masse kann niemand im Vorfeld genau sagen, was es an möglichen Funden gibt. Schließlich sind weder das vatikanische Archiv noch das Archiv der Glaubenskongregation so archiviert, wie wir das aus dem deutschen oder österreichischen Staatsarchiv kennen. Es gibt nur sehr vorläufige Verzeichnisse. Meist läuft es ja so, dass man über andere Quellen ein Gerücht gehört hat oder eine dunkle Ahnung hat, der man dann nachgeht.

 

Das war auch im Fall der "Nonnen von Sant'Ambrogio" so: Man wusste aus der Kulturkampfzeit vom Gerücht eines Vergiftungsversuchs einer Prinzessin aus dem Hause Hohenzollern in einem italienischen Kloster. Ein Gerücht, aber mehr nicht. Und diesem sind wir dann nachgegangen...

 

Was lässt sich an dem Fall von Sant'Ambrogio denn jenseits aller kriminalgeschichtlicher Reize exemplarisch zeigen? Was ist der historische Mehrwert?

 

Das wichtigste ist die Frage: Was geschieht in geschlossenen religiösen Systemen? Wenn ein System zu ist und vom Kirchenrecht vorgesehene Kontroll- und Sicherungsmechanismen nicht mehr greifen - etwa in Form der Trennung von Leitungsamt und seelischer Begleitung -, dann geht es völlig schief. Außerdem kann man an dem Fall exemplarisch studieren und zeigen, was passiert, wenn zu dem an sich schon schrecklichen Tatbestand des Missbrauchs - im Fall von Sant'Ambrogio des Missbrauchs an einer 17-jährigen Novizin - noch religiöser Druck hinzukommt.

 

Wie hat man denn in Rom auf Ihr Buch reagiert?

 

Bisher habe ich keine negativen Reaktionen bekommen. Ich hab natürlich mit einigen Bischöfen und Jesuitenprovinzialen darüber gesprochen, die anerkannt haben, dass es ein Buch ist, das ohne Schaum vor dem Mund geschrieben und ganz dicht an den Quellen ist. Entscheidend fand ich beim Schreiben, dass es bei der Sache eigentlich um Wahrheit und Wahrhaftigkeit geht. Der Kirche hilft schließlich nur ein wahrhaftiger Umgang mit ihrer Vergangenheit. Schon bei Johannes kann man lesen: "Die Wahrheit wird euch frei machen". Und darin besteht "die" aufklärerische Arbeit der Kirchengeschichte: dass sie ohne Wenn und Aber die Dinge auf den Tisch legt.

 

Damit haben Sie schon die Frage angeschnitten, zu welchem Zweck man überhaupt Geschichte treibt? Kann eine Institution überhaupt aus Geschichte lernen?

 

Ich würde zwischen Geschichte und Kirchengeschichte sehr deutlich differenzieren. Johannes Paul II. hat bei der Öffnung des Archivs der Glaubenskongregation 1998 einen bemerkenswerten Satz gesagt: Die Kirche fürchtet nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Und weiter: Wenn das Lehramt der Kirche für die Fehler, Sünden und Vergehen der Kirche und ihrer Glieder um Verzeihung bitten will, dann muss das Lehramt zunächst von der Kirchengeschichte über den genauen Umfang und die zeithistorischen Bedingungen dieser Schuld informiert werden. Genau das macht Kirchengeschichte.

 

Und von da aus noch einmal weiter gedacht: Wenn Christen glauben, dass sich Gott in Jesus Christus auf die Geschichte eingelassen hat, dann gelten die Prinzipien der Geschichte auch für die Kirche; dann gilt das Prinzip der Geschichtlichkeit der Entwicklung. Und dann kann ich nur zum Kern von Kirche vordringen, wenn ich sie historisch befrage und die Geschichte als einen theologischen Erkenntnisort wähle. Dann aber wird es erst richtig spannend - denn dann werden plötzlich alternative Modelle sichtbar, die für die heutige Diskussion meines Erachtens wieder neu auf den Tisch müssten. Anders gesagt: Kirchengeschichte muss in aktuellen Debatten der Kirche und der Theologie sozusagen "den Tisch decken"; sie muss die vergessenen Optionen der Kirchengeschichte auf den Tisch legen und dabei auch die Fehler anerkennen, die geschehen sind.

 

Am 27. April werden gleich zwei Päpste - Johannes Paul II. und Johannes XXIII. - zu den Ehren der Altäre erhoben. Wie stellt sich diese Heiligsprechung und die Praxis der Heiligsprechungen überhaupt durch die kirchengeschichtliche "Brille" dar?

 

Mir geht die Heiligsprechung insbesondere von Johannes Paul II. zu schnell. Wir haben in der Geschichte schon Jahrhunderte gehabt ohne einen einzigen heiligen Papst. Und plötzlich haben wir jetzt ein Jahrhundert, in dem jeder zweite Papst heiliggesprochen wird. Das macht einen erstmal skeptisch. Wobei das sicherlich auch wesentlich mit der Frömmigkeit von Johannes Paul II. zu erklären ist, der mehr Heilige und Selige zu den Ehren der Altäre erhoben hat als alle seine Vorgänger zusammen. Wobei wie gesagt: Mir sind es zu viele - den Überblick habe ich schon lange verloren...

 

Könnte man das Phänomen eventuell auch damit erklären, dass gesellschaftliche Krisenzeiten eine Sehnsucht nach Vorbildern, nach Heiligen hervorrufen?

 

Das es eine große Sehnsucht nach starken Vorbildern gibt, sehe ich auch so. Aber den Umkehrschluss auf die Häufung von Selig- und Heiligsprechungen finde ich schwierig - gerade nämlich vor dem Hintergrund, dass das Zweite Vatikanische Konzil das "wandernde Gottesvolk" stark in den Mittelpunkt gestellt hat. Wenn es nach dem Konzil ginge, müssten sie entsprechend den Päpsten auch jeden zweiten katholischen Arbeiter heilig sprechen... Natürlich soll jeder Papst auch die Chance haben, heiliggesprochen zu werden, in der Häufung in den letzten 150 Jahren sehe ich jedoch eine deutliche Unausgewogenheit.

 

Das heißt, die Heiligsprechungen von Johannes Paul II. und Johannes XXIII. sind Ihres Erachtens auch nicht gerechtfertigt?

 

Das habe ich nicht gesagt - es geht mir nur bei Johannes Paul II. zu schnell. "Santo subito" ist immer schwierig. Die Kirche hat nicht umsonst ein sehr ausgefeiltes, gestuftes Verfahren, was ja bei Johannes XXIII. auch lange gedauert hat. Ich hielte es für gut, bei diesem Verfahren zu bleiben und nicht allzu oft von diesen Verfahrensvorgaben, die ja einen Grund haben, zu dispensieren. Dass nun diese beiden Päpste gemeinsam heiliggesprochen werden, ist allerdings "gut katholisch" - schließlich stehen sie für zwei unterschiedliche Typen des Petrusdienstes. Wenn diese beiden nun gemeinsam zu den Ehren der Altäre erhoben werden, wird damit nicht ein enges, einheitliches Bild von Kirche vermittelt, sondern die ganze Weite des Katholischen. Daher ist es gut, dass es so einen "Doppelschlag" gibt.

 

Wir gedenken heuer ja des 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges. Wie stellt sich die Situation rund um 1914 aus Sicht des Kirchenhistorikers dar? War die Katholische Kirche tatsächlich reine Friedenskraft, oder auch Kriegstreiberin oder zumindest Beförderin nationalistischer Kräfte?

 

Wenn man auf das Jahr 1914 blickt, dann muss man zunächst nüchtern feststellen: Die Kirche hat da bzw. auch in den Jahren zuvor keine wirkliche Rolle gespielt; sie war gesellschaftlich abgemeldet, da sie nur mit sich selbst beschäftigt war. Das Stichwort lautet Modernismuskrise bzw. Antimodernismus. Unter Pius X. hat die Kirche allen vermeintlichen Reformströmungen - sei es in Form der modernen Philosophie, der Liturgie, der Neuerungen in der Exegese etc. - den Kampf angesagt. Das führte dazu, dass die Kirche zu einem selbstreferentiellen System wurde. Anders gesagt: Im Vorfeld dieser Katastrophe des Weltkriegs, die sich ja bereits andeutete, ist die Kirche eigentlich draußen.

 

Dann wird aber Benedikt XV. gewählt - und seine Friedensinitiative von 1917, die ja leider scheiterte, muss eindeutig als ein großartiger Akt bewertet werden. Das hat selbst die Sozialistische Internationale erkannt, die die Befürchtung aussprach, der Papst nehme ihr mit seiner Initiative quasi die Butter vom Brot, wenn Katholiken auf einmal zu Friedensaktivisten werden.

 

Spannend - das zeigen die neuen Quellen - sind die heftigen Diskussionen im Vatikan zur päpstlichen Friedensinitiative. Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri etwa vertrat die Meinung, dass man sich seitens des Vatikans zwischen alle Stühle setze, wenn man allzu konkrete Vorschläge macht. Dann würden die Deutschen sagen, man sei zu Frankreich-freundlich, die Franzosen würden sagen, man sei zu Deutschland-freundlich, die Belgier würden sich nicht ausreichend berücksichtigt finden und, und, und. Der Papst setzte sich aber gegen Gasparri durch und schickte seinen besten Mann - Eugenio Pacelli, den späteren Papst Pius XII. - nach Deutschland, um die Friedensinitiative vorzutragen.

 

Auch wenn sie letztlich scheiterte: sie war ein wichtiges Signal, das auch außerhalb der Kirche wahrgenommen wurde und die - das ist das Wesentliche - die Kirche von dem Geruch befreit hat, dass sich die Kirche immer auf eine Seite schlägt und dann mit jeweils neuen Argumenten einen "gerechten Krieg" rechtfertigt. Nein, die Kirche hat deutlich gesagt, dass dieser Krieg, vor allem im Blick auf die Giftgaseinsätze, nicht mehr "gerecht" genannt werden kann. Und damit beginnt eine kirchenpolitische Linie, auf der die folgenden Päpste nun - letztlich bis hin zur Kritik Johannes Pauls II. am Irakkrieg - sehr zurückhaltend sind bei der Legitimation von Gewalt. Vor diesem Hintergrund war also die Friedensinitiative - auch wenn sie gescheitert ist - ein wichtiges, ein starkes Signal mit Folgewirkung bis heute.

 

Quelle: Kathpress-Info-Dienst

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