Alles, was der Fall ist

Mit seiner „Geschichte der abendländischen Philosophie“ wagt der englische Philosoph und ehemalige Priester Sir Anthony Kenny das Experiment einer umfassenden philosophischen Ideengeschichte von den Anfängen bis Derrida. Im Fokus dabei: die Frage nach Gott.


Es gibt Sätze wie in Stein gemeißelt. Sie erheben den Anspruch, dass die Welt nach ihnen nicht mehr dieselbe ist wie zuvor. So etwa der bekannte nachtschwarze Satz des Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969), dem zufolge es „kein richtiges Leben im falschen“ gebe. Oder sein flammender Abgesang auf die Errungenschaften der zeitgenössischen Philosophie in den Minima moralia: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“

Solchen Sätzen kann man widersprechen. Man kann sie ergänzen und verändernd aufgreifen, wie es etwa der ebenso prominente deutsche Philosoph Jürgen Habermas getan hat. Oder man kann sie und ihre Autoren schlichtweg ignorieren. So geschehen in dem kolossalen Werk des englischen Philosophen und ehemaligen Priesters Sir Anthony Kenny. Seine vierbändige „Geschichte der abendländischen Philosophie“, die vor zehn Jahren erstmals in Englisch erschienen ist und nun in einer deutschen Übersetzung vorliegt, erhebt einen erstaunlichen Anspruch. Die Geschichte der Philosophie soll nicht nur chronologisch, sondern auch ideengeschichtlich nacherzählt werden – und zwar aus einer Feder. Im Zeitalter frei flottierender, kollektiver Wikipedia-Autorenschaften ist dies wahrlich ungewöhnlich. Und es ist gewagt, wie die Beispiele Adorno und Habermas zeigen, die man bei Kenny ebenso wenig findet wie andere prominente Philosophen des 20. Jahrhunderts.


Wo ist die Philosophie zu Hause?


Hat sich damit die Anschaffung des Werks bereits erledigt? Keineswegs! Kenny benennt sehr genau seine Auswahlkriterien. Der Bereich der modernen Sozialphilosophie, die von Habermas geprägt wurde, ist zum Beispiel deshalb nicht vorgesehen, weil sie keine grundlegend neuen philosophischen Ideen hervorbringe, sondern einen angewandten Neu-Kantianismus darstelle. Gerade dem deutschen Leser beschert Kenny ein Aha-Erlebnis, als er ihm die Selbstreferentialität des deutschen Diskurses eindrucksvoll vor Augen führt: Philosophie ist längst nicht mehr Sache „deutscher Geister“ – mehr noch: Sie war es nie.


Durch seinen „angelsächsischen Blick“ stellt Kenny wieder jenes Gleichgewicht her, das in durchschnittlichen deutschen Philosophieseminaren zugunsten einer reinen deutschen Philosophiegeschichte mit dem beliebten Fokus auf dem deutschen Idealismus gekippt ist. Im Zeitalter der Globalisierung schreibt jedes Land, jeder Kontinent seine eigene Philosophie(geschichte). Auch macht Kennys frische, unprätentiöse und geradezu „unphilosophische“ Sprache das Werk lesenswert.


Interessant wird die Lektüre nicht zuletzt durch die Biografie des Autors. 1931 in Liverpool geboren, studierte Kenny zunächst in Oxford und Rom Katholische Theologie. 1955 wurde er zum Priester geweiht. Seine wissenschaftliche Laufbahn im Fach Philosophie an der Universität von Liverpool war zunächst begleitet von seiner Tätigkeit als Geistlicher in der Stadt. Es folgte ein Ruf an das Päpstliche „Venerable English College“ in Rom und schließlich 1963 seine Laisierung infolge einer Eheschließung.

Die nun folgende wissenschaftliche Laufbahn war eng mit der angesehenen Universität von Oxford verbunden, wo der 1992 zum Ritter geschlagene Kenny von 1984 bis 2001 das Amt des Prorektors innehatte. Bis 2009 war er außerdem Präsident des britischen „Royal Institute of Philosophy“.


Grundhaltung: Agnostizismus


Man muss nicht um die persönlichen Zerwürfnisse und Anfechtungen wissen, die Kenny nach seiner Heirat und der darauf folgenden Exkommunikation zum erklärten Agnostiker werden ließen, um sein Werk zu verstehen und zu schätzen. Aufschlussreich erscheint dieser Hinweis jedoch im Hinblick auf seine philosophische Vorliebe und Wittgenstein-Leidenschaft. Diese kommt etwa darin zum Ausdruck, dass er das abschließende Kapitel des letzten Bandes unter dem Generalthema „Gott“ mit einer „Philosophischen Theologie nach Wittgenstein“ enden lässt.


In seinem biografischen Werk „What I believe“ („Was ich glaube“, 2006) erklärt er dazu, dass die einzig argumentativ vertretbare Haltung zur Gottesfrage jene des Agnostizismus sei. Der Atheist verkürze das Problem, indem er es schlicht ignoriere und allein schon die Frage als „falsch“ oute. Der Theist hingegen konstatiere ein Wissen von Gott, das über das Ziel vertretbarer Argumente hinausschieße. Dies alles hielt Kenny nicht davon ab, sich intensiv mit der christlichen Philosophie insbesondere des Mittelalters zu befassen und wegweisende Arbeiten etwa zu Thomas von Aquin (1225–1274) vorzulegen.


Kein Fortschritt


Methodisch stellen die 1400 Seiten einen erstaunlichen Spagat dar: So schreibt Kenny gleichermaßen als philosophischer Historiker und historisch argumentierender Philosoph. Dabei manövriert er den Leser zunächst chronologisch durch die Jahrhunderte, um dann in jedem Band die jeweils großen philosophischen Themen und Fragen der Epoche darzulegen – von der Logik über die Ethik, die Sprachphilosophie bis hin zur politischen Philosophie. Er will Philosophen und die von ihnen bearbeiteten Problemstellungen aus ihrer Zeit heraus, quasi historisch-kritisch erklären, um sie so für die Gegenwart fruchtbar werden zu lassen. Sokrates (469–399 v. C.) sollte man schließlich nicht nur aus historischem Interesse studieren, sondern weil man sich von seinen Gedanken noch für heute Antworten erhofft, ist Kenny überzeugt.


Warum überhaupt Philosophie?


Damit sind wir in die bedeutendste Frage eingetaucht, die ein solch opulentes Werk aufdrängt: die Frage nach dem hermeneutischen Schlüssel, nach dem Sinn und Ziel jener philosophischen (Denk-)Figuren, die Kenny zu Gewährsleuten seines eigenen Denkens macht. Warum und zu welchem Zweck treiben wir Philosophie? Ist Philosophie Kunst oder Wissenschaft? Erhebt sie in der von Kenny dargebotenen Form einen bloß beschreibenden (deskriptiven) oder einen Richtschnur bietenden, verpflichtend-normativen Anspruch?


Eine eindeutige Antwort bleibt Kenny leider schuldig. Ansätze einer eigenen Hermeneutik schimmern jedoch durch, wenn er jeder Form teleologischer (zielgerichteter) Geschichtsphilosophie eine Absage erteilt: „Es gibt keine Kraft, die einen philosophischen Fortschritt in irgendeiner bestimmten Richtung garantiert.“ Dabei beruft er sich auf Ludwig Wittgenstein (1889–1951), der den Grund für diese Stagnation im Wesen der Sprache ausmacht, die „gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt“. Die Philosophie sei daher – so Kenny ernüchternd trocken und hart – „keine Wissenschaft“, da es keinen „neuesten Stand“ bei ihr gebe. In der Philosophie gehe es schließlich „nicht um das Wissen, sondern um das Verstehen, das heißt um die Strukturierung des Wissens“.


Daher können auch historisch angestaubte „Klassiker“ der Antike in der Gegenwart zu schillernden Perlen philosophischer Erkenntnis werden – ein Ziel, das Kenny vor allem in den thematisch strukturierten Bereichen seines Opus magnum verfolgt. Die Schriften des Aristoteles und Platons hätten im Bereich der Ethik wieder eine Renaissance erfahren.


Lebenskunst


Am treffendsten lässt sich Kennys Verständnis der Philosophie wohl mit dem Begriff der Lebenskunst fassen, bezeichnet er sie doch als „Hebamme der Wissenschaften“ und damit als jene Wissenschaftsform, die dem Menschen am nächsten kommt, ihm am gerechtesten wird. So startet die Geschichte der Philosophie bei Kenny als eine Geschichte des menschlichen Fragens und Suchens, eine Geschichte stets ähnlich gelagerter, doch historisch und wissenschaftlich immer wieder anders imprägnierter Fragen zu den großen Themen wie Logik, Physik, Ethik, Metaphysik, Geist und Seele, und – Gott.


Die Gottesfrage ist ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Moment in Kennys Lehre vom Verstehen. Nicht aufgrund seiner persönlichen Geschichte, sondern weil er die Gottesfrage als einen bis in die Moderne hindurch zentralen Eckstein philosophischen Schaffens und vor allem des Streitens erachtet. So findet sich nicht nur in jedem der vier Bände ein jeweils abschließendes Kapitel zum Thema Gott. Es sind auch theologisch einschneidende Ereignisse, die die Einteilung der vier Bände markieren. Der erste Band erzählt die Geschichte der Philosophie von den Anfängen bei Thales bis zur Bekehrung des Augustinus im Jahr 387; der zweite Band setzt die Darstellung von Augustinus bis zum Laterankonzil im Jahr 1512 fort.


Warum erscheint gerade dieses Konzil als Bruchlinie zur Neuzeit? Weil sich, so Kenny, erstmals religiöse und philosophische Lehren in lehramtlichen Dokumenten vereinten. Diskutiert wurde auf dem Konzil die philosophisch wie religiös umstrittene Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Das Konzil betonte, es könne mit Blick auf diese basale Frage keine zwei Lehren nebeneinander geben. Vielmehr müsse aus Vernunftgründen von einer Position in dieser Frage ausgegangen werden: „Damit erließ die Kirche erstmals nicht nur Vorschriften über die religiöse Wahrheit, sondern auch über die Theorie der religiösen Erkenntnis“ – sprich: Das vormals monolithisch-scholastische Lehramt öffnete sich für die Philosophie. Ein Meilenstein für beide Disziplinen.


Der dritte Band endet mit dem Tod Hegels im Jahr 1831 – ein Einschnitt, der sich sowohl im Ende des deutschen Idealismus spiegelt, als auch das Ende eines theologisch imprägnierten Geschichtsdenkens markiert. Es ist das Ende jenes Denkens, das Geschichte als ein Zur-Welt-Kommen Gottes begriffen hat, in dem Gott selbstverständlicher Handlungshorizont der Philosophie war.


Immer wieder Wittgenstein


Der vierte Band schließlich endet in seinem chronologischen Teil mit Jacques Derrida (1930–2004), dem Denker der „différance“ und der Dekonstruktion. Kenny macht keinen Hehl daraus, dass er Derrida eher der Literaturwissenschaft als der Philosophie zuordnet. Als Philosophen kann oder will er ihn nicht wirklich ernst nehmen: „Seine philosophischen Waffen sind das Wortspiel, die unzüchtige Bemerkung, Hohn und Gelächter“ – im Derrida’schen Spätwerk findet Kenny nach eigenem Bekunden „keine Lehren mehr, die man vorstellen könnte“.


Dennoch weist er darauf hin, dass Derrida gerade auch für Theologen ein spannender Denker sei. Denn dessen Methode der „Dekonstruktion“ will Texte gerade nicht klassisch verstehenswissenschaftlich durchleuchten, historisch-kritisch filetieren und entschlüsseln, sondern beharrt auf einem durch Interpretation nicht überbrückbaren Restbestand – der „différance “ – zwischen dem Begriff, dem Bezeichnetem sowie dem Leser. Manch einer hat dies – auch wenn von Derrida immer wieder abgestritten – als theologischen Ankerpunkt betrachtet, als Freiraum Gottes in der modernen Philosophie. So mag, wer immer sich mit Derrida intensiv auseinandersetzt, auch bei diesem erklärt modern-agnostischen Denker eine Tiefenspur der Gottesfrage wiederentdecken.


Am Ende der weiteren Ausführungen steht abermals Wittgenstein – aus philosophischer Überzeugung, aber wohl auch aus purer Sympathie. Kenny scheint sich auch lebensgeschichtlich dem großen, zwischen Philosophie und Theologie zerrissenen Denker nah zu fühlen. Wittgenstein, den er unverhohlen als „den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, erweist sich für ihn als Schlüsselphilosoph der Gegenwart – in der Sprachphilosophie wie auch im Hinblick auf das Gott-Denken durch alle Religionskritik und atheistischen Bestreitungen hindurch.


In der Sackgasse, in der sich die Debatte zwischen Philosophie und Theologie spätestens seit Nietzsches Diktum vom Tode Gottes und der Freud’schen Entsorgung aller religiöser Empfindungen als „Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit“ befindet, sieht Kenny offenbar in Wittgenstein einen möglichen Ausweg. Dessen Tractatus logico-philosophicus, der mit dem zum Zitat erstarrten Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ anhebt, enthält für Kenny die auch noch für das 21. Jahrhundert wegweisende Einsicht in die philosophische Unmöglichkeit, das hartnäckige Gottesgerücht zu tilgen oder zu neutralisieren. „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, so Wittgenstein.


Welt, zu klein gedacht


Obgleich er schon früh der Religion entsagte, so begleitete Wittgenstein die Gottesfrage doch zeitlebens. Er war überzeugt, dass Sinnstiftung allein aus der Philosophie nicht möglich sei. Diese könne höchstens Weisheit vermitteln; verglichen mit der „brennenden Leidenschaft des Glaubens“ bleibe Weisheit jedoch „kalte, graue Asche“, wie Kenny ausführt. Der Respekt, den Wittgenstein der Religion aus philosophischer Sicht entgegenbringt – es ist zugleich der Respekt des ehemaligen Priesters und nunmehrigen Agnostikers Kenny. Oder um es mit Wittgenstein zu sagen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“


Das führt schließlich zurück zu Adorno, der in seiner Negativen Dialektik eben jene „Neutralisierung“ der religiösen Frage in der Philosophie, genauer: in der Metaphysik beklagt hat. Denn damit verschwinde – obwohl weder die Gottesfrage gelöst noch „ihre Unlösbarkeit bewiesen“ sei – das, „was den Menschen das Dringlichste sein müsste“. Metaphysik sei „nicht nur die Säkularisation der Theologie in den Begriff“, so der Frankfurter Philosoph, sie rette den Gehalt der Theologie vielmehr noch im Stadium ihrer Zersetzung. Ein solches überschießendes Sinnpotenzial verbirgt sich laut Adorno etwa darin, Welt nicht zu klein zu denken, sie nicht auf „alles, was der Fall ist“, zu begrenzen.


Ein ungeheuerlicher Gedanke


Denn wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, wird sie kalt und hoffnungslos für jene, die nicht mehr der Fall sind – die Opfer, die vom Mahlwerk der Geschichte Zerriebenen. Dieser Gedanke, so der Philosoph Max Horkheimer (1895–1973), dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not nicht erhört werden „und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich“. Auch Horkheimer findet sich bei Kenny nicht. Schade eigentlich. Denn Philosophie kann auch nach Wittgenstein noch Substanzielles zur Gottesfrage beitragen – und manchmal gar von der Theologie lernen.


erschienen in der Zeitschrift "Christ in der Gegenwart"

am 24. August 2014

Kommentar schreiben

Kommentare: 0