Sprung ins Dasein - Eine Pilgerreportage

Das Pilgern ist vermutlich die Reiseerfahrung, die am meisten herausfordert. Die rhythmische Langsamkeit des Gehens, das sprachlose Hören auf die Leere um einen herum – das Leben wird dadurch ruhiger, aber auch intensiver und geschmackvoller.

Foto: Henning Klingen
Unterwegs nach Mariazell | Foto: Henning Klingen

 

So ruhig ist es selten in der Stiftskirche von Heiligenkreuz, jenem Zisterzienserstift, das durch seine "singenden Mönche" und ihre gregorianische CD "Chant" Weltruhm erlangt hat. Es ist neun Uhr morgens an einem warmen Julitag, die Sonne vertreibt gerade die letzten Schatten aus dem idyllischen Klosterhof mitten in den sanften Hügeln des Wienerwaldes.

 

Wie zwei Schulbuben stehen mein Freund Dominik und ich allein in der eindrucksvollen Stiftskirche, vor uns P. Karl Wallner, Buchautor und Professor an der Hochschule Heiligenkreuz: "Möge der Geist Gottes euch auf dem kommenden Weg begleiten und eure Freundschaft stärken." Er legt uns die Hände auf, bittet für uns den Segen herab. Ein rasches "Amen", und noch bevor die ersten Besucher den Klostergasthof bevölkern, marschieren wir los. Vier Tagesetappen liegen vor uns bis nach Mariazell, einem der wichtigsten Wallfahrtsorte Mitteleuropas.

 

Alle paar Jahre packt es mich. Raus aus dem streng rhythmisierten Alltag und seinen Gewohnheiten und hinein in die Wanderschuhe, genauer: in die Pilgerschuhe. Seit ich als Jugendlicher zunächst aus sportlichem Ehrgeiz, später aufgrund der tiefen Gemeinschafts- und wohl auch Glaubenserfahrung jährlich mit einer Gruppe aus meinem Heimatort am Niederrhein ins 250 Kilometer entfernte Trier zum Grab des Apostels Matthias gepilgert bin, lässt mich das Pilgern nicht mehr los. Ausbrechen aus dem vermeintlich Normalen, nicht, um abzubrechen, wegzulaufen, nein, um gestärkt zurückzukehren, um den süßen Nektar puren Daseins zu kosten, aber auch den Schmerz an den Füßen und die Freiheit im Kopf.

 

Pilgern – nach dem ersten Tag noch ein wenig das Gefühl von Ferien und Freizeit, keine Einkehr, eher Auskehr des Alltäglichen.

 

So auch in diesem Juli. Bereits kurz nach unserem Ausgangsort Heiligenkreuz führt der Weg, vorbei am geschichtsträchtigen Mayerling, nur mehr durch satte Wiesen, kleine verschlafene Ortschaften und weite Täler. Vergessen die Nähe zur Großstadt Wien, vergessen nach wenigen Schritten auch Büro, Sitzungen, Stress. Noch ist es allerdings zu früh für Spiritualität oder gar Gebet. Zunächst tauschen wir uns aus, erzählen von unseren Familien, vom Beruf, plaudern so intensiv, wie es enge Freunde tun, die sich nur noch selten sehen.

 

Ein erster Anstieg nach Hafnerberg, eine erste wohltuende Pause. Die schweren Rucksäcke lasten noch ungewohnt auf unseren Schultern. Nach 25 Kilometern erreichen wir unser erstes Etappenziel: Kaumberg. Keine übertriebenen Etappen gleich zu Beginn, lautet das Motto. Pilgern – nach dem ersten Tag noch ein wenig das Gefühl von Ferien und Freizeit, keine Einkehr, eher Auskehr des Alltäglichen.

 

Der nächste Tag wartet nicht nur mit strahlendem Wetter, sondern auch gleich mit dem alpinistischen Höhepunkt auf: dem Kieneck. Auf über 1.100 Meter schraubt sich der Weg hinauf durch dichte Wälder und entlang eines schmalen Kamms, der immer wieder atemberaubende Blicke in die Weite zulässt. Nach einer Stärkung auf der Enzianhütte bietet sich uns ein grandioses Drohszenario: Eine mächtige Wolkenfront mit fernem Gewittergrollen rückt näher – Zeit, um auch einmal die spirituelle Dimension unseres Weges aufzugreifen: Wir lesen gemeinsam aus dem Buch Hiob – immer wieder hat uns die Figur Hiobs, sein stilles, von Demut bestimmtes Aufbegehren gegen Gott während unseres gemeinsamen Studiums begleitet, herausgefordert. Weiter führt der Weg über das nicht minder alpine Unterbergschutzhaus bis zum Etappenziel Rohr im Gebirge.

 

Mit jedem Schritt Richtung Ziel rücken sie langsam wieder näher, die Gedanken an den Job, den Terminkalender, den strengen Wochenrhythmus. Muss das alles so sein?


Die dritte Etappe bis St. Aegyd wartet mit Regen und Kälte auf. Je näher wir Mariazell kommen, desto mehr wird der Ort seinem Ruf als Wetterloch gerecht. Mariazell: dass der Ort das eigentliche Ziel ist, können wir nicht behaupten, unser Herz hängt am Weg, an jedem Schritt. Während der Regen die Kleidung durchnässt, die Schritte langsamer und uns stiller werden lässt, wird der Kopf frei. Stille – auch das gehört zu den wichtigen, intensiven Pilgererfahrungen. Wir nutzen die kostbare Zeit, die wir so selten miteinander teilen, für Gespräche – nun aber auch für gemeinsames Schweigen.

 

Je näher wir Mariazell kommen, desto dichter wird auch die Beschilderung des Wegenetzes. Österreich müsste vollgepflastert sein mit Wegschildern, wollte man jeden Wallfahrtsweg auszeichnen. Regionale Wege überziehen das Land ebenso wie die großen Jakobswege. Rund 80.000 Pilger machen sich jährlich in Österreich auf den Weg. Zwei davon nähern sich am mittlerweile vierten Tag auf dem "Wiener Wallfahrerweg" ihrem Ziel. Die Pilgerdichte wird höher, der Rucksack schwerer, die Füße müder.

 

Die letzten Kilometer. Von Ferne ist bereits die mächtige Basilika inmitten des weiten grünen Tales zu sehen. Mit jedem Schritt Richtung Ziel rücken sie langsam wieder näher, die Gedanken an den Job, den Terminkalender, den strengen Wochenrhythmus. Muss das alles so sein? Ließ sich nicht so manch angeblicher Zwang einfach über Bord werfen? Der pilgernde Sprung ins bloße, nackte Dasein – er stärkt nicht nur für die Rückkehr in den Alltag, er schafft auch wohltuende, reinigende Distanz zu vermeintlich Unvermeindlichem.

 

Das Leben wird langsamer in dieser urbiblischen Erfahrung des Pilgerns. Aber es wird auch intensiver, dichter – manchmal schmerz-, aber immer geschmackvoller. 

 

Fast ein wenig enttäuscht über unsere fehlende Euphorie über das Erreichen unseres Ziels betreten wir die Basilika. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, vor der Gnadenstatue wird ein Gottesdienst mit anderen Neuankömmlingen gefeiert. Nach einem kurzen Rundgang und einem stillen Gebet entschließen wir uns, unsere Ankunft in einem der nahen Gasthäuser zu feiern. Wir lassen die Tage noch einmal Revue passieren, Müdigkeit stellt sich ein, die Vorfreude auf die Familien und auf das "normale Leben", auf die Pilgerfahrt im Alltäglichen wächst.

 

"Ich ließ meine Seele ruhig werden und still, wie ein kleines Kind" heißt es in einem Wallfahrtslied Davids in den Psalmen. Ebenso ruhig und still kehren wir nach Wien zurück. Gehen, Wandern, gemeinsam unterwegs sein: Das Leben wird langsamer in dieser urbiblischen Erfahrung des Pilgerns. Aber es wird auch intensiver, dichter – manchmal schmerz-, aber immer geschmackvoller. Und am Ende dürstet man nach mehr von diesem Leben.

 


Impressionen: Auf dem Wiener Wallfahrerweg von Wien nach Mariazell