Das Schweigen durchbrechen

Familiengeschichten sind der Pulsschlag jeder Erinnerungskultur. Doch was wissen Kinder und Enkel tatsächlich von ihren Eltern und Großeltern? Bericht vom Experiment einer familiären „oral history“

Kirche von Lobberich - Quelle: lobberich.de / VVV
Kirche von Lobberich - Quelle: lobberich.de / VVV

Meine Großeltern wurden in den Jahren 1919 und 1924 geboren. Sie haben mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zueinander gefunden, während eines Genesungsurlaubs von einer Kriegsverletzung sprach mein Opa meine Oma in einem Gasthaus in meiner Heimat einfach an. Nach dem Krieg wurde geheiratet, Familiengründung, Polizeidienst, die ersten Reisen, die Liebe zum Garten, zu den Enkeln, bescheidener Wohlstand in einer langen Pension. Eine Familiengeschichte wie es viele gibt.

 

Wie es viele gibt? Nein, natürlich nicht. Denn jede Familiengeschichte ist so einzigartig wie die Menschen, die sie beleben, wie die Erinnerungen, die sie zusammenbindet. Und spätestens wenn man als Nachgeborener am Grab der eigenen Großeltern steht merkt man, dass mit der Urne gleichsam unwiederbringlich Geschichte und Geschichten mit ins Grab fahren.

 

Gewiss, nicht alles ist es wert, erinnert zu werden, aber es hilft doch, manch schräge Familienkonstellation und manch persönliche Marotte zu erklären. Umso erstaunter war ich über das Schweigen, ja Unwissen, als ich unter Eltern, Onkels und Tanten nach biografischen Details, nach dem dunklen Schatten der Kriegserlebnisse meiner Großeltern fragte. Kein Einzelphänomen – es gibt bereits Kongresse, auf denen die „Kriegsenkel-Generation“ kollektive Erinnerungsarbeit betreibt.

 

Es entstand das Bild zweier Leben, die sich früh trafen und verbanden; die Geschichte einer Familie, die in der raschen Drift des Alltags nur allzu selten dazu kommt, nach jenen Schultern zu fragen, die einen tragen. 

 

Soweit wollte ich nicht gehen. Und so schrieb ich vor einigen Jahren kurzerhand einen Brief an meine Großeltern – ein Brief, der eigentlich nur aus einem bestand: aus seitenweise Fragen. Systematisiert nach Vorkriegsjahren, Kriegsjahren, Nachkriegsjahren. Fragen nach familiären Ereignissen, gesellschaftlichen Entwicklungen – auch in der stillen Hoffnung, das schulische Wissen zu jenen dunklen deutschen Jahren durch persönliche Erinnerungen zu erhellen, vielleicht gar zu verstehen.

 

In drei langen Gesprächsrunden öffneten meine Großeltern dann den Schatz ihrer Erinnerungen. Sie redeten sich warm, jeder Anekdote folgten weitere, längst vergessen geglaubte Geschichten. Keine Lebensbeichte, wohl eher die Freude darüber, dass jemand Interesse zeigt für längst Verschüttetes, scheinbar Belangloses, jedoch stets Prägendes.

 

Es entstand so aus unzähligen Mosaiksteinchen das Bild zweier Leben, die sich sehr früh und unter schwierigsten Bedingungen trafen und verbanden; die Geschichte einer Familie, die – wie wohl so viele andere auch – in der raschen Drift des Alltags nur allzu selten dazu kommt, nach jenen Schultern zu fragen, die einen tragen. Und ganz praktisch entstand so eine intime Familien-CD mit Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden – gerade weil sie so unwichtig, so belanglos erscheinen.

 

erschienen in: 

"miteinander" - Ausgabe 11/12-2017

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