Zu Sprache geronnene Metaphysik

Die Postmoderne hat alles zerschlagen: Ob Kosmos, Geschichte oder Gesellschaft – alles existiert nurmehr im Fragment. Dagegen bäumt sich nun der große kanadische Philosoph Charles Taylor in seinem neuen Buch "Das sprachbegabte Tier" auf.

Charles Taylor: Rezension zu seinem neuen Buch "Das sprachbegabte Tier"
flickr.com / Daniel Silliman / CC BY-NC-ND 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0)

Habermas. Wie ein Fels in der Brandung steht dieser Name da, wenn es um gesellschaftliche Moral- und Normdiskurse geht, um Sprachphilosophie oder um Gesellschaftstheorie. Zwar strengt sich heute eine neue Generation an Philosophen an, diesen Fels mit Fäustel und Stemmeisen zu zerschmettern oder aber ihn schlichtweg im feuilletonistischen Smalltalk als erledigt zu desavouieren, allein: es ist noch kein eleganterer und umfassenderer Versuch am akademischen Horizont aufgetaucht, der all jene philosophisch verlorenen Begriff wie Geschichte, Kosmos, Mensch zusammenfügen könnte, ohne in einen platten Naturalismus oder eine religiöse und damit exklusive Sprache abzugleiten.

 

Bei Habermas ist Kants bestirnter Himmel zwar bereits abgeräumt, aber zumindest ist noch eine schmerzhafte Leerstelle spürbar, eine Ahnung davon, dass der Mensch mehr ist als eine verglimmende Monade, mehr als Stoffwechsel und Fortpflanzung. Nun aber wagt es ausgerechnet ein Zeitgenosse, ja Freund von Habermas – der kanadische Philosoph Charles Taylor – diese Leerstelle neu zu füllen und mit seinem Buch "Das sprachbegabte Tier" nichts geringeres vorzulegen als den Entwurf einer sprachphilosophischen Kosmologie. Dabei macht es der Universalgelehrte selbst seinen wohlgesinntesten Lesern nicht leicht: Denn sein 600-Seiten-Wälzer ist in weiten Strecken vor allem eines: knochentrockene Sprachphilosophie – gleichwohl in nonchalant unakademische Sprache gekleidet und gespickt mit teils amüsanten Beispielen – vom Biker bis zur Ming-Vase von Tante Hannelore.

 

Sprache, die zur Gemeinschaft drängt

 

Taylors Grundthese ist bei all dem klar und er legt sie gleich zu Beginn auf den Tisch: Es geht ihm um den Nachweis, dass Sprache nicht allein dazu dient, Tatsachen zu benennen und zu kommunizieren; sie dient vielmehr der "Erschaffung von Bedeutung", ja der Erschaffung von Welt. Sprache drängt laut Taylor stets zur Gemeinschaft – zur Gemeinschaft unter Gleichen, die im Raum des Sozialen "nach Verbundenheit, Intimität, Liebe" streben, aber auch zum Einfühlen in ein größeres Ganzes: "Wir spüren, dass die Wörter Bestandteile eines umfassenderen Sprachvermögens sind".

 

Die Grundfrage, der sich Taylor somit nähert, lautet: Was "haben" Zeichen und Wörter eigentlich, wenn wir sagen, sie haben Bedeutung? Worin besteht diese Bedeutung? Die Philosophie kenne zwei Wege, diese Frage zu beantworten – zum einen den Weg einer "Rahmentheorie", in der die menschliche Sprache als Werkzeug zur Erfüllung von Zwecken und Funktionen begriffen wird – zum anderen den Weg einer "Konstitutionstheorie", die von der Grundannahme ausgeht, dass Sprache mehr ist als Funktion, sondern ein Weg und Ort der Welterschließung, der Konstitution des Menschen insgesamt.

 

Als Gewährsleute beider Theoriekonzepte lässt Taylor jeweils drei Gegenspieler auf dem historischen Schachbrett des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufmarschieren: Auf der einen Seite die von ihm favorisierten Denker der Romantik, Wilhelm von Humboldt, Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann, die den Menschen gerade durch seine Sprachbegabung sozial und moralisch tief verwoben sahen mit der Welt, ja dem Kosmos. Wer der Sprache mächtig ist, dem wird unreflektierter Zorn zur Empörung, der wandelt Begehren in Liebe, oder mit Taylor: "Die Sprache transformiert unsere Welt".

 

Dagegen habe es im Fahrwasser der Philosophie Rene Descartes mit den Denkern Thomas Hobbes, John Locke und Étienne Bonnot de Condillac drei Denker gegeben, die bis heute maßgeblichen und laut Taylor fatalen Einfluss auf die gesamte philosophische Debatte ausüben: Diese nämlich reduzierten Sprache auf die Bedeutung der "Informationsverschlüsselung" – und sie zerschnitten damit gleichsam jenes Band, welches den Menschen mit seinesgleichen und mit dem Kosmos verknüpfte.

 

Plädoyer für das Narrative

 

Der von Taylor in charmant-laxer weise als "HHH-Theorie" bezeichnete Ansatz von Hamann, Herder und Humboldt wende sich unmittelbar gegen diesen "empirischen Atomismus" und plädiere dagegen für einen "Bedeutungsholismus" – was nichts anderes heißt, als dass Menschen als sprachbegabte Tiere "in einer größeren Welt leben, die über die episodische Gegenwart hinausgeht" und die Menschen nur durch Sprache erfassen und auch gestalten können.

 

Dass es Zukunft und Vergangenheit gibt, dass diese verpflichtende Bindekräfte auf die Gegenwart hin entfalten – all dies ist laut Taylor nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Sprachtheorie verständlich – einer Theorie, in der - so könnte man den Begriff abwandeln - Sprache ein "Bedeutungsholyismus" zukommt: Sie ist Taylor unverfügbar, alles durchdringend und bestimmend und doch auch immer wieder flüchtig. Also heilig. Bei Taylor liest sich das so: "Es ist nichts daran zu ändern, dass wir als Menschen in einem umfassenden sozialen, ja sogar kosmischen Zusammenhang leben."

 

Aus all dem folgt laut Taylor außerdem, dass die aristotelische Rede vom Mensch als "zoon echon logon", was klassisch mit "vernünftiges Tier" übersetzt wird, einer Revision bedarf: Und zwar in dem Sinne, dass man "Logos" umfassender als nur auf die Vernunft reduziert begreifen sollte: "Im Grunde könnte man auch die Übersetzung 'Sprache besitzendes Tier' verwenden." Diese Sprachbegabung ist sozusagen die Initialzündung für die gesamte Entwicklung des Menschen.

 

Poetischer Gottesbeweis

 

Ob die historische und philosophische Rekonstruktion der Debatte einer Überprüfung standhält, muss offen bleiben – man wird Taylors Anliegen aber auch gar nicht gerecht, wenn man im Kleinklein bleibt. Schließlich geht es ihm um das große Projekt, der zunehmenden Atomisierung der Welt und ihrer Individuen etwas entgegenzusetzen – und dies aus dem Ureigensten des Menschen, seiner Sprache, zu rekonstruieren. Der Himmel wird bei Taylor also wieder zum bestirnten Himmel, der Mensch nicht nur zum sprachbegabten, sondern zugleich zum verantwortungsbeladenen Tier.

 

Der Schritt von der Sprachphilosophie zur Metaphysik oder gar zur Theologie wird somit am Ende ein denkbar kleiner. Und tatsächlich eröffnet Taylor, der nie ein Problem damit hatte, sich offen zu seinem Katholizismus zu bekennen, am Ende, dass er an einer Fortsetzung seines Buches arbeitet, in dem es um eine Relecture der romantischen Poetik und ihrer schöpferischen Kraft geht. Diese Sprachform habe sich den Geschmack für den Kosmos, für das "Außermenschliche" bewahrt, und sie bietet für Taylor offenbar die Chance, in einer postsäkularen Welt einen kleinen Zipfel des göttlichen Mantelsaums zu ertasten. Poesie als sprachlich geronnene Sehnsucht nach dem ganz anderen, als Metaphysik – ein Gottesbeweis in Jamben und Trochäen.

 

Es ist dem 85-jährigen Charles Taylor und vor allem seinem Publikum zu wünschen, dass ihm noch die Zeit bleibt, dieses gewaltige Projekt zu Ende zu bringen.

 

Der Band „Das sprachbegabte Tier - Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen.

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