Wortreich – und doch sprachlos: Eine Krisenanzeige zur Neuen Politischen Theologie

Die Neue Politische Theologie ist einer der wohl erfolgreichsten und innovativsten theologischen Ansätze der jüngeren Vergangenheit. Und doch kommt sie in den gegenwärtigen religionspolitischen Debatten kaum vor. Eine journalistische Krisenanzeige.

 

Foto: kathbild.at / Franz Josef Rupprecht
Foto: kathbild.at / Franz Josef Rupprecht

Als Journalist ist es ebenso unüblich wie als Theologe bzw. Wissenschaftler, in der ersten Person zu schreiben oder in Texten gar Biografisches auszufalten. Nüchternheit ist Trumpf. Der Autor hat hinter seinem Text zurückzutreten und sollte Argumente oder Fakten sprechen lassen. Wenn ich hier mit dieser Goldenen Regel breche, so ist dies nicht zuletzt Johann Baptist Metz zu verdanken, der mein theologisches Denken und journalistisches Schreiben beeinflusst hat wie kein Zweiter. Denn indem er Theologie und Biografie auf das Engste miteinander verwoben hat, hat er der Theologie gleichsam eine neue, direkte und den theologischen akademischen Diskurs erfrischend unterbrechende Sprache geschenkt.

 

Eine Sprache jedoch, die wie mir scheint in den gegenwärtigen religionspolitischen Debatten kaum mehr gehört, geschweige denn verstanden wird. So sehr eine begrifflich wie diskursiv ausgedörrte und in ihrem moralischen Ethos gespaltene mediale Öffentlichkeit Impulse einer historisch verantworteten, von Mitleidenschaft und Gottessehnsucht geprägter Zeitgenossenschaft auch bedürfte, die Neue Politische Theologie spielt in ihr – leider – keine Rolle mehr. Warum ist das so? Was ist geschehen? Was hat die Neue Politische Theologie verstummen lassen? Liegt die Verantwortung allein auf Seiten einer Öffentlichkeit, die nicht hören will, oder auch auf Seiten einer Theologie, die ihre Sprache verloren hat?

 

Biografische Erschütterungen

 

Ein Rückblick: Als ich im Wintersemester 1996/97 an der Universität Münster mein Studium begann, war es ein damals junger, schüchterner Privatdozent, der mich bei der Vorstellung der Grundkurse gleich in seinen Bann schlug und dem ich bis heute eng verbunden bin. Denn während andere Lehrende bei dieser ersten Tuchfühlung mit den hilflosen Erstsemstern das Bollwerk theologischer Gelehrsamkeit auffuhren und Einführungen in Augustinus, Thomas oder die Sakramententheologie anboten, stellte der damals an seiner Habilitation arbeitende Metz-Schüler Jürgen Manemann schlicht Fragen. Ja, er stellt in Frage, er rüttelte mit der tief rührenden Frage nach Gott angesichts überbordender historischer Leiderfahrungen an den vermeintlichen Gewissheiten bürgerlicher katholischer Biografien.

 

"Es waren tiefe Erschütterungen, die sich durch die Biografien dieser Menschen in unsere eigenen Biografien einschrieben und die uns fortan jede allzu glatte Rede von den großen, schillernden Begriffen wie Wahrheit, Gnade, Erlösung, Heil als hohl empfinden ließ."

 

Eine Irritation, die mich und zahlreiche andere Erstsemester in ihrer Authentizität und in einer direkten, erfahrungssatten Sprache beeindruckte. Noch wussten wir nicht, dass dies der Klang der Neuen Politischen Theologie war; noch sagte uns der Name Johann Baptist Metz nichts. Wir lasen fortan nicht etwa theologische Klassiker oder theologische Grundkurse – nein, wir lasen Zeugnisse von Menschen, deren Glaube in den Flammen von Auschwitz für immer verloren ging; aber auch Zeugnisse von Menschen, die nach Auschwitz nur aus Glauben weiterleben konnten. Es waren tiefe Erschütterungen, die sich durch die Biografien dieser Menschen in unsere eigenen Biografien einschrieben. Erschütterungen, die uns fortan jede allzu glatte Rede von all den großen, schillernden Begriffen wie Wahrheit, Gnade, Erlösung, Heil als hohl empfinden ließ. Wir besuchten die Gedenkstätte Buchenwald, lasen in Lektürekreisen Adorno, Benjamin – und Metz. Den Streit der Schulen, der im Hinter- und Untergrund weiter köchelte, nahmen wir nur am Rande war – schließlich war uns die Sache mit Gott, dieser so flüchtigen wie unausweichlichen Größe, wichtiger als philosophische Begründungsscharmützel.

 

Ich schildere dies so ausführlich, weil es meines Erachtens tief ins Wesen, ja, ins Uhrwerk der Neue Politischen Theologie blicken lässt. Denn so schillernd die Texte etwa im Metzschen Hauptwerk „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ wirken, so leichtfüßig sich ihre Zeilen ins Hirn graben, so sehr verdanken sie ihre Überzeugungskraft indes nicht etwa dem siegreichen, nüchternen Argument. Erfahrung – und ist sie auch noch so „angeeignet“ – ist der Transmissionsriemen ihres Geltungsanspruchs. Ihre Autorität beziehen sie aus der stillen Übereinkunft zwischen Autor und Leser, dass das, was war, nicht nochmal sein darf; aus dem Erschrecken vor der Geschichte, oder um es mit Metz‘ eigenen Worten zu sagen: aus der Autorität der Leidenden selbst.

 

"Das stille Einvernehmen zwischen Autor und LeserIn – es ist verdampft unter dem Brennglas einer aus den Fugen geratenen Zeit."

 

Diese Autorität, so erscheint es mir aus meiner journalistischen Beobachterperspektive, hat heute ihre Kraft eingebüßt, ja, sie wird offen in Frage gestellt, wo sich der öffentliche Diskurs nach rechts verschiebt, wo ein Ausnahmezustand herbeigeredet wird, in dem gerade nicht der Schwache der Motor der gesellschaftlichen Revolte ist, sondern allein der starke Macher zählt. Der innerste Kern der politisch-theologischen Überzeugungskraft wird so ausgetrocknet und lässt ihre Botschaften ungehört verhallen. Und ist es nicht gar so, dass die starken Suggestivfrageketten, die zentrale Texte der Neuen Politischen Theologie kennzeichnen und die einen Teil des Geheimnisses ihres Erfolges ausmachen, heute nicht mehr verfangen, ja, längst nicht mehr so fraglos sind, wie sie erscheinen möchten? Das stille Einvernehmen zwischen Autor und LeserIn – es ist verdampft unter dem Brennglas einer aus den Fugen geratenen Zeit.

 

Menetekel des Erfolges

 

Doch es wäre gewiss vermessen, diese Entwicklung zu bedauern und betrauern, ohne auf die großen Erfolge der Neuen Politischen Theologie zu blicken. Denn diese gibt es zweifellos: kaum ein kirchliches Sozialpapier, das heute nicht die „Option für die Armen“ erwähnt; Auschwitz wird kirchlich als Zäsur erinnert, das Erste Testament und dem Judentum kommt eine hohe Bedeutung in kirchlichen Äußerungen und Texten zu; der von Metz geprägte Begriff der „Gotteskrise“ ist zu einer viel gebrauchten Metapher geworden – wenngleich vermutlich nicht immer im von Metz intendierten Sinn. Selbst das Pontifikat von Papst Franziskus kann gewissermaßen als ein politisch-theologisches Pontifikat verstanden werden. Kurz: Zahlreiche Begriffe und Topoi der Neuen Politischen Theologie haben sich heute in den Kernbestand kirchlicher Verkündigung und ins selbstverständliche Vokabular theologisch-kirchlichen Sprechens eingeschrieben. Dieser „Erfolg“ wurde ihr jedoch zugleich zum Menetekel. Denn was zum Allgemeingut wird, verliert früher oder später seinen Stachel. Das Selbstverständliche verliert so gleichsam seine Selbst-Verständlichkeit, je selbstverständlicher es im Munde geführt wird.

 

"Die Theodizee-Frage, von Metz noch gleichsam in eins gesetzt mit Theologie überhaupt, wird heute zu einem bloßen diskursiven Glasperlenspiel. Der Stachel der Neuen Politischen Theologie – er schmerzt nicht mehr."

 

Schließlich scheint mir die Neue Politische Theologie heute auch universitär einen schweren Stand zu haben. Zu einer eigenen Schule wurde sie – aus gutem Grund – nie entwickelt. Heute jedoch fällt ihr gewissermaßen auf den Kopf, dass sie kaum mehr an Katholisch-Theologischen Fakultäten gelehrt wird, dass sie es nirgends zur Ehre eines eigenen Lehrstuhls gebracht hat, dass ihre Vertreter zwar an wichtigen auch kirchlichen Schaltstellen tätig waren und zum Teil noch sind, es aber keinen universitären sicheren Hafen mehr gibt. Dies wäre vermutlich jedoch eine wichtige Feuerwand gegen jene Kehrtwende in der systematischen Theologie, die sich in ihrem eigenen universitären Überlebenskampf allem an den Hals wirft, was vermeintlich festen Boden bietet. Doch der Gott der Philosophie, der ewige, unbewegt Beweger – er ist halt nur schwer zu vereinbaren mit einem Gott, der als der Ausständige, als der Kommende geglaubt und erhofft wird. Der eschatologische Vorbehalt als störendes Staubkorn auf der Platte der ewigen Wahrheit. In Folge wird auch die Theodizee-Frage, von Metz noch gleichsam in eins gesetzt mit Theologie überhaupt, zu einem bloßen diskursiven Glasperlenspiel. Der Stachel der Neuen Politischen Theologie – er schmerzt nicht mehr.

 

Wider den Alarmismus in Permanenz

 

Eine letzte Beobachtung. Sie betrifft – wieder – die Sprachform der Neuen Politischen Theologie, konkret: ihren auf Permanenz getrimmten Alarmismus. Die Rede von der Krise ist eine Signatur der Zeit. Ein Satz, wie er sinngemäß und oft wortwörtlich in zahlreichen Texten politisch-theologischer Provenienz der 1990 Jahre vorkommt. Krise? Gewiss, es gab komplexe Debatten – man denke an Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“, die aufkeimenden Träume gentechnischer Selbstoptimierung, auch die Ausläufer des Historikerstreits der 1980er Jahre waren noch zu spüren. Und heute? Nicht erst seit 9/11 sind Krise und Eskalation auf Dauer gestellt: Nihilistisch ausgedörrter Terror, der nichts will als Vernichtung hat weite Teile des Nahen Ostens in Brand gesetzt und seine bittere Saat auch in den müden europäischen Gesellschaften ausgebracht. Liberale Demokratien werden unter dem Eindruck der Flüchtlingsströme der größten Bewährungsprobe seit dem zweiten Weltkrieg ausgesetzt und drohen im rechten Populismus unterzugehen. Die Arbeitsmärkte ächzen unter einem enthemmten Neoliberalismus, der das Individuum und mit ihm ganze Familien zu Spielbällen kurzfristiger Spekulation und anonymer Optimierungsprozesse werden lässt. Erscheint angesichts dieser Entwicklungen die beschworene Krise in den 1990er Jahren nicht wie ein laues Lüftchen? Anders gesagt: Ein auf Dauer gestellter Alarmismus führt gerade in der öffentlichen Debatte dazu, dass die Halbwertszeit zweifellos gut gemeinter Warnungen und Mahnungen, moralischer Appelle und Aufrufe rapide verfällt.

 

Diese „Krisenanzeige“ schreibe ich nicht etwa mit journalistischer Nüchternheit und Distanz nieder, sondern mit aufrichtigem Bedauern und einer daran zugleich wachsenden Kampfes- und Widerstandslust. Denn ich halte die Neue Politische Theologie nach wie vor für die „richtige“, ja, die einzig vertretbare Form historisch verantwortbarer christlicher Theologie. Und tatsächlich gibt es ja auch Anlässe, Themen, Diskurse zu Hauf, an denen man als politischer Theologe mit der ganz eigenen Optik der Neuen Politischen Theologie Metzscher Prägung ansetzen kann: sei es bei den Diskursen über die Geltung von Menschenwürde und Menschenrechten, den Debatten über das gute Leben, über den Sinn historischer Sinnbildung, über Konservativismus und Liberalismus etc.

 

Möglichkeiten gibt es genug, die bleierne Patina abzuschütteln, die seit den 1990er Jahren auf der Neuen Politischen Theologie liegt. Man muss sich nur der Mühe unterziehen, ihren Geltungsanspruch neu von der Wurzel her offenzulegen und die der Neuen Politischen Theologie eigene kritische Zeitgenossenschaft aus der Spirale der Selbsthistorisierung mit wachem Blick für aktuelle Themen herausführen – und dazu am besten mit der Lektüre bei Metz selber beginnen. Damit sie nicht zur ungelesen dahintreibenden Flaschenpost auf den schäumenden Wogen religionspolitischer Debatten wird. Höchste Zeit, den Stöpsel zu ziehen und ihren Geist, dieses Antidot gegen jede theologische Ermattung und Depression, neu auszugießen.

 

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Der Beitrag erscheint in diesen Tagen in einer LIT-Festschrift zu Ehren von Johann Baptist Metz: Hans-Gerd Janßen / Julia D. E. Prinz / Michael J. Rainer / (Hg.), Theologie in gefährdeter Zeit. Stichworte von nahen und fernen Weggefährten für Johann Baptist Metz zum 90. Geburtstag (Lit-Verlag Münster)

 

 

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