Die Apotheose des Alltäglichen

Der österreichische Autor Michael Köhlmeier über seine letzten 24 Stunden - Aufgezeichnet von Henning Klingen

Photo by Ruth Brozek / Universität Wien / Poetikdozentur
Photo by Ruth Brozek / Universität Wien / Poetikdozentur

Nur keine Dramatik. Nur kein aufgeregter Flügelschlag. Wenn ich wüsste, dass in 24 Stunden alles aus wäre, so würde ich daher auch nicht besonders früh aufstehen, um möglichst viel aus dieser letzten Zeitspanner herauszuholen. Vermutlich würde ich mir ganz ruhig erstmal eine Kaffee kochen und mich gegen den Gedanken wehren, dass dies der letzte Kaffee meines Lebens sein wird. Und schon wäre ich in der vermaledeiten Reflexionsschleife, die den Dingen Werte beimisst, die ihnen eigentlich nicht zukommen. Aber ist das nicht die Aufgabe des Künstlers, des Autors? – Selbst die kleinsten Dinge so zu betrachten, als würden sie die ganze Welt in sich bergen? Der letzte Kaffee! Wie kostbar; und doch wie banal! Also bloß kein Pathos, bloß keine Sentimentalität.

 

Also auf ein Neues: Ich würde allein sein wollen. Nur so entginge ich der Verlockung, jeder Handlung, jedem Atemzug meines schwindenden Lebens höhere Bedeutung zuzumessen. Meine Familie wäre vermutlich gekränkt, aber ich könnte einfach niemanden ertragen in dieser Situation – am wenigsten mich selbst. Vor einigen Jahren musste ich mich einer Operation unterziehen. Krebs. Es bestand kein erhöhtes Risiko, dennoch klärte mich der Anästhesist vor der Operation pflichtgemäß über das Risiko auf, nicht mehr aufzuwachen. Das hat mich beklommen gemacht. Meine Frau und mein Sohn wollten bei mir in der Klinik bleiben – allein, ich wollte das nicht. Alles, nur keine zelebrierte Abschiednahme.

 

Entsprechend würde ich also auch in diesen letzten 24 Stunden alles vermeiden, was einer Lebensabrechnung gleich käme, müsste ich dabei doch zwischen wesentlichen und unwesentlichen Dingen unterscheiden. Aber angesichts des Todes ist alles gleich-gültig, alles gleich wesentlich. Denn ist es angesichts der verschwindenden Zeit, die man hat, nicht ein Verbrechen dem Sein gegenüber, irgendeine kleine Scheißhausfliege weniger zu achten als andere Dinge? Vielleicht würde ich dann ja feststellen, dass die beste Art und Weise zu leben jene ist, vollkommen unbewusst in den Tag hinein zu leben und die Dinge einfach zu tun. Nicht groß. Nicht bedeutungsschwer, sondern mit beiläufiger Leichtigkeit. Die Apotheose des Alltäglichen.

 

Natürlich schießen mir auch die angelernten Fragen nach dem Sinn durch den Kopf. Wofür hast du gelebt, Michael? Was war der tiefere Sinn? Ich bin überzeugt, dass das eine an sich unsinnige Frage ist. Denn die einzig mögliche Antwort lautet: Um zu leben. Um morgens aufzustehen, den Müll runter zu tragen, die Zeitung zu holen, Menschen zu begegnen in all den Alltäglichkeiten, die man so gerne als Intellektueller oder Bildungsbürger für irrelevant erklärt. Aber das sind sie nicht. Sie sind vielleicht das eigentlich Schöne, ja, Erhabene im und am Leben.

 

Was also tun nach diesem ersten Kaffee des Tages? Einen Joint rauchen und sich zudröhnen? Oder sich vielleicht doch das Leben nehmen? Beides an sich ja banale Dinge, ohne Pathos. Nein, ich würde die Mitteilung über mein baldiges Ableben schlichtweg ignorieren und – um zum Anfang zurückzukehren – eine Kaffee trinken. Denn wenn mir das gelänge – dass ich mit dem, was mich umgibt einfach allein, ohne große Gedanken in einer gewissen kontemplativen Müdigkeit verbringen darf –das wäre wohl das Beste.

 

Erschienen in der Rubrik "Meine letzten 24 Stunden" in der Zeitschrift

"Cicero - Magazin für politische Kultur"

 

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