Beiträge aus der "Furche"


Foto: Jörg Noller / wiki
Foto: Jörg Noller / wiki

Der Konter-Revolutionär

 

Am 5. Mai wird der große Denker und bekennende Katholik Robert Spaemann 85 - Ein Portrait

 

erschienen in: "Die Furche" am 3. Mai 2012

 

Lang ist der Weg, dunkel und steil. Wer alle 14 Kreuzwegstationen auf dem Waldweg abgehen und gar beten will, braucht einen guten Atem. Belohnt wird er mit einem prächtigen Blick von der auf einer Anhöhe thronenden Trappistenabtei Mariawald. Ihr Ort: die Eifel im äußersten Westen Deutschlands. Hierher verirrt man sich nicht, hierher kommt man bewusst. Weil man das strenge, von harter körperlicher und geistlicher Arbeit und vom Rhythmus der Liturgie gepulste Leben gezielt sucht. Weil man seinem Reiz vielleicht schon von Kindheit erlegen ist. So wie einer der wohl bekanntesten katholischen Intellektuellen und Philosophen der Gegenwart: Robert Spaemann.

 

Nach einer jahrzehntelangen Gelehrtenkarriere an verschiedenen deutschen Universitäten - von Münster über Stuttgart, Heidelberg und München - und seiner Emeritierung 1992 hat er sich mit nunmehr 85 Jahren in den Dienst der Abtei nehmen lassen. Warum? Wegen seiner Vorliebe für das monastische Leben, das er selbst früher einmal anstrebte, aber wohl auch, weil man hier oben in der Eifel zum vorkonziliaren "Alten Ritus" zurückgekehrt ist; eine Form, die er liebt und für deren Wiederzulassung er bei Papst Benedikt XVI. heftig geworben hatte. Nun kommen die Mönche in den Genuss, in Vorträgen und Exerzitien dem großen alten Mann der Philosophie bei seinem Denken "live" auf die Finger zu schauen. Doch was hat er noch zu sagen? Was ist seine Botschaft? Und findet sie überhaupt noch einen Weg hinaus aus klösterlichem Gemäuer und hinein in die Foren der zivilen Öffentlichkeit?

 

Wer ihm nach-denken möchte, muss sich auf seine Biografie einlassen. Auf den ersten Blick liest sie sich wie eine klassische Gelehrtenvita, bestimmt von Lektüre und Studium, aber auch geprägt von einer tiefen familiär gelebten Religiosität. So berichtet Spaemann etwa in dem jüngst erschienenen autobiografischen Gesprächsband "Über Gott und die Welt" davon, dass er bereits als Dreijähriger "Wohlbehagen" empfand, als er "auf dem Schoß seiner Mutter liegend aufwacht beim Psalmodieren der Mönche, das ihn auch schon in den Schlaf gesungen hatte". Nach dem Tod der Mutter wurde sein Vater Priester, früh keimte in ihm der Wunsch, Mönch zu werden. Die Benediktiner im nordrhein-westfälischen Kloster Gerleve hatten sein Herz erobert. Doch es kam anders, es kam die Philosophie - getragen von der stets brennenden Sehnsucht nach einer Heimat, die "uns allen in die Kindheit scheint, wo aber noch keiner war", wie er in Anlehnung an Ernst Bloch schreibt.

 

Aus dieser biografischen Melange heraus erwuchs auch seine durch und durch anti-faschistische und die Nazis rundheraus ablehnende Haltung schon als Schüler. Dem Eid auf Adolf Hitler entzog er sich durch simulierte Krankheit, und schon als Schüler galt er in den Augen seiner Mitschüler als "konterrevolutionär" im Sinne seiner Gegnerschaft zu den Nazis. "Es war für mich ein Ehrentitel: Ich war konterrevolutionär".

 

In gewissem Sinne sollte er dies ein Leben lang auch in anderen Fragen und Debatten bleiben. Denn nichts lag ihm ferner, als einem revolutionären Gestus zuzuarbeiten, der im Rausch des Umbruchs Traditionen und Grundüberzeugungen wegwischte. Seine Liebe gilt dem Bleibenden, wie er es etwa bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin findet. Aus ihnen schöpfend beharrt er bis heute auf einem Naturrechtsdenken. Wissend um die damit einhergehenden erkenntnistheoretischen Probleme hält er zumindest an den Basisbestimmungen fest, dass es ein solches Wesen geben müsse, denn "gäbe es kein Natur Rechtes, so ließe sich über Fragen der Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten". Gott als Initialzündung dieses Rechtsbegriffs, als Schöpfergott, und Vernunft schließen sich bei Spaemann nicht aus - im Gegenteil. Vernunft rotiert auf der Stelle, wo sie nicht ihre eigene Begrenztheit, ihre Einbettung in den größeren, mit der Chiffre Gott versehenen Horizont erfährt.

 

Entsprechendes Unbehagen empfindet er immer dort, wo die Menschheit vermeint, den Rockzipfel der Geschichte selbst fest in den Griff zu bekommen, mehr noch, sich selbst zum Maßstab der Geschichte zu machen. So blieb ihm die "68er"-Studentenbewegung, die er als Professor an der Universität Stuttgart miterlebte, ebenso fremd wie der sich anbahnende philosophische Paradigmenwechsel. Suspekt blieb ihm die Rede vom "herrschaftsfreien Diskurs", denn Diskurse, so seine Überzeugung, können nie jene Begründungstiefe erlangen, die reflektierte Erfahrungen, die Einsichten in naturrechtliche Gegebenheiten besitzen.

 

Unangepasst auch sein Umgang mit dem Urdatum allen aufklärerischen Vernunftdenkens: der Französischen Revolution und ihrer Rezeption. Schon früh galt sein Interesse vor allem jenen Denkern, die die Geschichte der Revolution gegen den Strich zu bürsten versuchen - wie etwa die französischen Philosophen der Restauration, vor allem Vicomte de Bonald, über den er seine Doktorarbeit schrieb. Die Idee der Volkssouveränität, der Ermächtigung des Volkes, das war für de Bonald der Sündenfall schlechthin, die Destruktion der im Symbol des Monarchen komprimierten Gegenwart Gottes. Ein Denken, dass die Präsenz Gottes aus dem Erdkreis verbannt, bedeutet aber auch Spaemann bis heute "eine Art Abdankung des Denkens".

 

Er war stets ein Wanderer zwischen den Welten. Vom katholischen Elternhaus aus machte er sich auf die Reise - von weit links und den Marxismus über die scholastischen Klassiker des Mittelalters, die Aufklärung bis hin ins gefährliche rechte Eck eines Carl Schmitt. Ihn haben stets die geistigen Gratwanderungen gereizt. Aber Spaemann wäre nicht Spaemann, wenn man ihn eines leichtfertigen Vernunftdefaitismus oder gar restaurativer Leidenschaft für das Gottesgnadentum überführen könnte. Nie ging es in einer Befassung mit den Denkern der Restauration um Wiederherstellung des Vergangenen, stets aber um die Bewahrung des Geschmacks für das Verlorene und den Rückgriff auf nicht Abgegoltenes, auf weiterhin Gültiges. "Mein Plädoyer für die Moderne wurzelt in der Verehrung des Untergehenden", schreibt er.

 

Es sind die als verfemt geltenden Disziplinen der Metaphysik, des Naturrechtsdenkens und der Teleologie - d.h. der Rekonstruktion einer das Sein durchwebenden Zielgerichtetheit -, die Spaemann immer einen Exoten bleiben ließen - die ihm aber auch mehrfach Einladungen nach Castel Gandolfo zu Gesprächen mit Johannes Paul II. und heute Papst Benedikt XVI. eingebracht haben.

 

Ein Exot zieht zugleich jedoch auch unselige Koalitionäre an. So steht Spaemann nicht zuletzt durch seine intensive Befassung mit Carl Schmitt, mit den Denkern der französischen Reaktion und durch seine persönliche Vorliebe für den Alten Messritus im Geruch, rechte Strömungen zu bedienen. Kein Zweifel, Spaemann wird in diesen Fällen vereinnahmt, er selbst tut nichts dazu. Aber vielleicht manchmal zu wenig dagegen.

 

Gewiss, seine ungebrochene Katholizität mag heutigen Zeitgenossen fast unerträglich erscheinen, seine Resistenz gegen philosophische Abenteuer, der bewahrende Gestus, den sein ganzes Werk ausstrahlt, ebenso - vielleicht lässt sich dies alles nur richtig einschätzen vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen, seiner Biografie. Wer in Zeiten der Zerrüttung aufwächst sucht das Ganze, sucht zu retten durch eine unrettbar verlorene Zeit hindurch.

 

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Der Konter-Revolutionär - Robert Spaemann im Portrait
Ein Portrait aus Anlass seines 85. Geburtstages - erschienen am 3. Mai 2012 in der Wochenzeitung "Die Furche"
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Nichts als Leere

 

Unablässig umspülen die Wellen des angelsächsischen „neuen Atheismus“ mittlerweile auch die Feste Europas mit immer demselben Gedanken: Die wissenschaftliche Evidenz sagt, es gibt keinen Gott. Keine philosophische Attacke, der „Fels des Atheismus“ hat seine Zacken verloren. Ein Lob des „alten Atheismus“

 

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!’ Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. (…) Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?’ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?’“

 

Wohl kaum ein Text über den Atheismus hat Philosophen wie Theologen in den letzten 100 Jahren so sehr herausgefordert wie jener berühmte Aphorismus Friedrich Nietzsches’ über den „tollen Menschen“. Auch heute marschieren sie wieder, die Laternenträger – doch längst haben sie die Suche nach Gott aufgegeben, längst sind sie über alle Zweifel ihrer Tat erhaben. Erleuchtet sind sie tatsächlich, die „Brights“, die Künder des „neuen Atheismus“, die sich seit einigen Jahren hinter ihren Galionsfiguren Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Daniel Dennett versammeln. Ihre Fackel ist die Fackel der naturwissenschaftlichen Vernunft, ihr Gott der evolutive Prozess, ihr Fetisch der Naturalismus.

 

Gott als Arbeitshypothese ist für sie überflüssig geworden – so lautet ihre Botschaft, die sie in Pamphleten wie dem jüngsten Dawkins-Reißer „Die Schöpfungslüge“ oder Stephen Hawkings „Großer Entwurf“ verkünden. Der Blick in die Bestsellerlisten auch hierzulande zeigt: Atheismus ist wieder ein Thema – und er spült zugleich die letzten Reste jener fröhlichen Religiosität weg, die zuvor so schillernde PR-Perlen wie den „Megatrend Spiritualität“ oder die viel besungene „Wiederkehr der Religion“ hervorgebracht hatte.

 

Doch was macht den Reiz dieses „neuen Atheismus“ aus? Vor allem ist es seine Voraussetzungslosigkeit. Man muss sich nicht mehr in der Geistesgeschichte auskennen, geschweige denn in der Bibel – im Übrigen aber auch nicht in den Naturwissenschaften. Ob Evolution, Urknall oder kirchliche Sündenregister – es gibt nichts, was Dawkins und Co. nicht in leicht verdaulichen Happen servieren. Außerdem liefern die „Brights“ ein eindeutiges Weltbild in Zeiten der Unsicherheit: Spätestens der 11. September 2001 hat die hässliche, gewalttätige Fratze der Religion – und dabei speziell des Monotheismus – neu zum Vorschein gebracht. Gott, das ist jene unberechenbare Kraft, die Menschen dazu bringt, sich im Dienste einer höheren Wahrheit in die Luft zu sprengen. Weg damit.

 

Man muss es allerdings offen sagen: Dem spätmodernen Menschen ist der Atheismus näher als der Theismus. Für ihn steht der „Leere Stuhl des Messias“ (A. Heller) in der Regel nicht mehr im Zentrum, er spürt oftmals nicht einmal mehr den Schmerz des Vermissens dieses leeren Stuhls. Das räumt im Übrigen selbst Benedikt XVI. ein, wenn er in seinem jüngsten Interview-Band konstatiert: „Für viele ist der praktische Atheismus heute die normale Lebensregel.“ Kein Gottvermissen mehr, schon gar keine Gottesvergiftung – höchstens noch ein stückweit kollektive Melancholie darüber, dass man nicht einmal mehr weiß, was man eigentlich vermisst.

 

Was waren das dagegen für glückselige Zeiten, als Atheismus noch eine theologische Herausforderung war. Als Atheisten in der Frage nach dem ungerechten Leiden noch wie ein Schwert schwangen und darin mit Büchner den „Fels des Atheismus“ sahen. Als agnostisch gestimmte Geister dem biblischen Erbe zu neuen Ehren in der Philosophie verhalfen, indem sie ihm ein Gespür für das Unabgegoltene in der Geschichte zuerkannten.

 

Alles aus und vorbei. Kehrtwende in den Diskursen, Naturalismus ist angesagt, Reduktion des Lebens auf seine biologistischen Grundvollzüge. Das Ich in seiner ganzen Komplexität wird dabei ebenso verabschiedet wie der Glaube. Religion – nicht mehr als ein Trick der Evolution, um mit dem elenden Leben besser zu Recht zu kommen. Das haben wir nicht erst Dawkins zu verdanken, er hat es jedoch geschafft, sich durch den geschickten Vermarktungskreuzzug seiner Thesen an die Spitze einer ganzen Bewegung zu setzen – oder diese erst zu initiieren.

 

Gewiss, das Theoriegebäude der „neuen Atheisten“ ist brüchig. So kann man einen rein funktionalen Religionsbegriff konstatieren und sich über die geradezu unwissenschaftliche Selbstgewissheit nur amüsieren. Aber man muss ernsthaft rückfragen: Kann man den Menschen tatsächlich einfach so auf Chemie im Kopf reduzieren, auf eine Vorspiegelung im limbischen System? Sieht so Aufklärung aus? Nimmt man ihm dabei nicht – ganz nebenbei – noch die Verantwortung für sein Tun ein stückweit aus der Hand? Wie gehen sie um mit der metaphysischen Resignation der Menschen, die sich subjektmüde und sehnsuchtsfrei in ihr wunschloses Unglück ergeben? Was haben sie zu bieten an symbolischer Ordnung? Die traurige Wahrheit: Dawkins und Co. sehen darin „kein Problem, denn Böses und Leiden kommen in den Berechnungen zum Überleben der Gene nicht vor“. Biologie kennt keine Rücksichten.

 

Nietzsche focht noch einen Kampf gegen die „Sklavenmoral“ des Christentums, Gott war ihm der Tod des freien Gedankens, Religion bloße Repression. Auf dieser Ebene jedoch wollen die Brights – nichts. Sie zielen auf keine neue Moral, auf keinen Entwurf. Aber natürlich haben sie eine Mission – und diese ist durch und durch politisch. Denn Religion ist gerade in den USA weder Privatsache noch marginalisiert – sie ist Wirtschaftsmacht und Politikum, wie zuletzt der Einfluss evangelikaler Kräfte bei den „Midterm-Wahlen“ auf die „Tea party“-Bewegung deutlich gemacht hat. Sie ist ein Player der Zivilgesellschaft mit klaren bildungspolitischen Avancen, gestützt von einem dichten Netz religiöser Stiftungen, privater TV-Kanäle und Verlage – und dies mit Erfolg, wie Umfragen immer wieder bestätigen, zeigen sich doch über 90 Prozent der Amerikaner von der Existenz Gottes überzeugt, gut die Hälfte geht davon aus, dass die Erde vor rund 6000 Jahren entstanden ist. Wen wundert’s da, dass Dawkins über sein jüngstes Buch zur „Schöpfungslüge“ schreibt, „Dieses Buch ist notwendig.“

 

Was bleibt also vom „neuen Atheismus“? Auf der einen Seite seine politische Mission, die mitunter gar eine Berechtigung hat. Auf der anderen Seite – Leere und mit ihr erneut Nietzsche. Denn über ihn und seine Verzweiflung kommen auch die Brights nicht hinweg, wenn er fragt: „Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ Aber es gibt noch ein anderes, erschreckendes Ende der Geschichte. Auch dieses findet sich bei Nietzsche. Es ist die zarathustrische Vision vom „Übermenschen“, die Idee des Eingriffs in den aus jeglichem Moralkorsett und Sinnzusammenhang herausgelösten Menschen. Es war nicht zuletzt Peter Sloterdijks Adaption dieses Impulses in seinem Text „Regeln für den Menschenpark“, der bei Habermas dazu führte, eine Lanze für den biblischen Gott zu brechen. Denn Habermas hatte erkannt: wo zumindest die Idee eines Schöpfers noch existiert, wo der leere Stuhl Gottes weiterhin im Raum steht, dort ist er die letzte Bastion, die noch die Kreatürlichkeit des Menschen verteidigt.

 

Erschienen in "Die Furche", 23. Dezember 2010

 


Fotos: Michael Hölzl / Niko Alm
Fotos: Michael Hölzl / Niko Alm

„Religion ist keine harmlose Sache“

 

Der Theologe Michael Hölzl und der Atheist Niko Alm im "Furche"-Streitgespräch über Religion im öffentlichen Raum, Religionsunterricht, gute und schlechte Theologie und Religion als Wertespender

 

F: Furche / H: Michael Hölzl / A: Niko Alm

 

F: Herr Hölzl, Sie forschen u.a. zur „neuen Sichtbarkeit“ von Religion. Helfen Sie uns auf die Sprünge: Erleben wir aktuell eine Wiederkehr der Religion oder eine Wiederkehr des Atheismus?

 

H: Dass Religion wieder ein öffentliches Thema ist, sieht jeder, der die Zeitung aufschlägt. Ich unterscheide da aber jene, die daraus schließen, dass Religion in ihrer bisherigen Form tatsächlich wieder erstarkt. Auf der anderen Seite gibt es jene, die sagen, Religion ist zurückgekehrt, aber sie hat sich stark verändert.

 

F: Was genau hat sich verändert?

 

H: Vor allem der Institutionenbegriff. Früher war man z.B. Parteimitglied, heute macht man auf Facebook spontan Solidaritätsbekundungen. Es ist spontaner, flexibler, flüssiger geworden und weniger starr. Das gilt auch für die Religion. Sie taucht in einer neuen, aber veränderten Form auf. Die Säkularisierung war da ein Motor, der Religion nicht ausgelöscht, sondern verändert hat.

 

F: Herr Alm, Sie sind Sprecher der „Laizismus-Initiative“ und zugleich bekennender Atheist. Worum geht es in Ihrer Kampagne – um Atheismus oder Laizismus?

 

A: Unser Gegner ist der Staat, nicht der Gläubige, insofern geht alles, was wir tun, auch ohne Atheismus. Wir kämpfen für die Gleichstellung. Wir haben ja in Österreich immer noch keine ordentliche Trennung von Staat und Kirche. Es gibt 14 staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, und diese verfügen über gewisse Privilegien – zum Nachteil jener, die keiner Religion angehören.

 

F: Diese hinkende Trennung von Staat und Kirche hat ja eine historische Wurzel, man dankt damit den Kirchen und Religionsgemeinschaften auch etwas.

 

A: Aber sie ist nicht mehr relevant und daher möchte ich sie kappen. Nur weil etwas schon lange besteht, heißt es nicht, dass es richtig ist.

 

H: Was heißt das konkret? Zielen Sie auf eine Verfassungsänderung ab, oder geht es um eine Art Kulturrevolution?

 

A: Ein Revolutionär bin ich sicher nicht. Revolution ist nie gut, Evolution ist mir lieber. Wir verfolgen ein langfristiges Ziel, am Ende wollen wir eine neue rechtliche Situation – und dazu müssen wir dann auch über die Verfassung reden. Mit der Buskampagne wollten wir z.B. ausloten, wie weit man in der Öffentlichkeit in Österreich gehen kann. Und wir haben gesehen: es haben sich kaum Menschen darüber aufgeregt – anders als es das mediale Echo suggeriert hat.

 

H: Der Skandal wäre größer gewesen, wenn Sie die Staatsoper zugesperrt hätten…

 

A: Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass eine Ungleichheit besteht. Ein zweiter Schritt wäre nun, dass sich die Leute als Konfessionslose „outen“. Immerhin machen wir 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in Österreich aus.

 

H: Aber halten wir die Dinge doch auseinander. Auf der einen Seite geht es um Kritik an der Institution Kirche und das vertraglich im Konkordat geregelte Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Das kann als unfair betrachten und als Benachteiligung für andere Gruppen. Aber das hat ja mit Atheismus absolut nichts zu tun.

 

A: An der Wurzel schon, da aus dem Gottesglauben ein ganzes kirchliches Rechtssystem abgeleitet wurde, das innerhalb eines staatlichen Rechtssystems steht. Diese treten aber in Konkurrenz zueinander und es ist die Pflicht des Staates, das andere System in seine Schranken zu weisen.

 

F: Ein klassisches Argument des Atheismus ist der Verweis auf das Gewaltpotenzial, das in Religion steckt.

 

A: Soweit würde ich gar nicht gehen. Ich würde aber sagen, dass Gewalt eine Folge der Teilung der Menschen ist, an der Religion allerdings teilhat. Das sieht man ja schon im Religionsunterricht, wo Kinder separiert werden. Daher sind wir auch gegen einen konfessionellen und für einen konfessionsübergreifenden Unterricht für Kinder bis 14, z.B. als „Religionen- und Ethik-Unterricht“. Dann können sich die Kinder immer noch entscheiden, ob sie konfessionellen Religionsunterricht wollen oder nicht.

 

H: Ich glaube, da gibt es einen Fehler in Ihrem Vorschlag. Es führt zu nichts, wenn ich etwa meine Tochter jetzt nicht taufen lasse oder in den Religionsunterricht schicke, sondern sie erst später frage, welche Religion sie gerne hätte. Natürlich bleibt diese Entscheidung durch uns Eltern eine Art Gewaltakt. Aber gerade im Prozess des Erwachsenwerdens kann sich das Kind dann wenigstens bewusst gegen etwas stellen.

 

A: Ich glaube, sie überinterpretieren die Kampagne. Sie richtet sich gegen den Staat, dessen Aufgabe es wirklich nicht ist, religiöse Erziehung in Schulen angedeihen zu lassen.

 

H: Sehen sie einen Staat, der diese Frage vorbildlich löst?

 

A: Ich denke, Großbritannien macht das gut. Gibt es da nicht einen überkonfessionellen Unterricht?

 

H: Ja, den gibt es. Aber es gibt auch eine Staatskirche mit bestimmten Privilegien. England ist ein interessantes Beispiel, weil es den fortgeschrittensten Multikulturalismus bietet, was aus der Commonwealth-Geschichte resultiert. Allerdings hat nach den Terrorattacken von 2007 eine intensive Debatte über dieses Modell begonnen. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen um die Forderung nach einem besseren Unterricht und „bessere Theologie“?

 

A: Ja, denn ein Kritikpunkt der Eltern, die ihre Kinder religionsfrei erziehen wollen, lautet dass ihren Kindern dadurch vieles an religiösem Faktenwissen fehlt, weil das weder im Geschichtsunterricht, noch sonst irgendwo vermittelt wird. Das kann aber nicht die Lösung sein, dass wir die alle in den konfessionellen Religionsunterricht stecken. Deswegen die Forderung nach Ethik- und Religionsunterricht – aber eben nicht in einer indoktrinierenden Art und Weise.

 

H: Theoretisch hat dieser Gedanke etwas für sich, vermutlich wird es sich praktisch spießen. Und zwar weil Religionen einen Absolutheitsanspruch stellen. Religion setzt existenziell an, da gibt es keine Wahl.

 

A: Danke für diesen Einwurf. Ich sehe das genauso, dass es daran scheitern wird. Daher auch mein Hinweis: Wenn dieser Absolutheitsanspruch unhinterfragt gestellt wird, dann ist er in der Schule fehl am Platz.

 

H: Dennoch möchte ich darauf beharren, dass Religionsunterricht an öffentlichen Schulen aufrecht bleibt – denn gefährlich wird Religion dann, wenn man sie zur Unsichtbarkeit verdammt oder etwa in Sonntagsschulen privatisiert.

 

F: Außerdem wird Religionsunterricht in der Schule ja auch staatlich kontrolliert.

 

A: Theoretisch ja, praktisch aber nicht.

 

H: Wenn Sie ganz konsequent wären, müssten sie eigentlich dafür sein, alle religiösen Symbole – angefangen beim Stephansdom – aus der Öffentlichkeit zu verbannen.

 

A: Nein, das will niemand. Das ist eine bösartige Unterstellung. Keiner will Kirchen niederbrennen. Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass das Recht auf freie Religionsausübung eingeschränkt werden sollte. Und ich halt auch das Glockengebimmel aus, das sind Kleinigkeiten. Ich respektiere auch die große religiöse Tradition, aber das ganze sollte insofern privat sein, als öffentliche Institutionen da herausgenommen sind.

 

F: Um an dieser Stelle kurz einzuhaken: Was einen Richard Dawkins besonders erregt, ist die Situation in den USA, wo Sie genau dies haben: eine prinzipiell ins Private gedrängte Religiosität, die aber – mit privaten Mitteln üppig ausgestattet – aus dem privaten Raum heraus starken Einfluss auf Politik nimmt. Ist da nicht österreichische kooperative Verhältnis von Staat und Kirche sehr viel transparenter und besser zu kontrollieren?

 

A: Was die USA als Trennung von Kirche und Staat betreiben, ist kontraproduktiv in genau der beschriebenen Art und Weise. Und gegen das kooperative Modell ist ja auch gar nichts zu sagen. Aber Kooperation und Privilegien sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Einmal hat ein bekannter Katholik zu mir gesagt: wir brauchen gar keinen politischen Einfluss, wir als katholische Politiker wissen eh, wie wir zu handeln haben. Der Ansatz müsste doch genügen aus der Perspektive der Kirche.

 

F: Greifen wir noch einmal das existentielle Moment von Religion auf. Wenn Sie von sich sagen, einen durchaus interessanten Religionsunterricht genossen zu haben, fragt man sich doch, ob es einen „biografischen Knacks“ gegeben hat…

 

A: Die Frage wird oft gestellt. Tatsächlich ist gar nichts passiert. Ich habe nie wirklich geglaubt, weder an Kreation noch an Intervention, schon als Kind nicht. Das hat mich nie weiter gestört, daher bin ich dann auch aus der Kirche ausgetreten. Gewachsen ist aber eine Unzufriedenheit, denn ich habe gesehen, dass diese Institution so viel Einfluss in unserem Land hat. Und dass sie eine Sonderstellung genießt, die mir zuwider ist.

 

F: Wie gehen Sie dann mit jenen existentiellen Situationen etwa von Leidenserfahrungen um, die für viele Menschen eine religiöse Dimension bedeuten?

 

A: Ich habe das das Glück, dass ich noch nicht in der Situation war, aber ich würde sagen, es gibt genauso auch humanistische Institutionen, die einem in diesen Situationen Hilfe bieten können. Ich habe ein naturalistisches Weltbild, und da sehe ich Glauben nicht als Lösung des Leidensproblems. Aber ich verstehe auch, wenn Menschen da religiös reagieren. Leute glauben ja auch an Homöopathie; dennoch wirkt das Zeug nicht.

 

H: Das existentielle Moment des Glaubens tritt für mich vor allem in Form radikaler Anfechtung in Erscheinung. Das ist übrigens ein starker Traditionsstrang, der die großen Mystiker und Heiligen ebenso betraf wie etwa Mutter Teresa. Sie alle kannten Erfahrungen der Bestreitung. Die ganze Tradition der Religionskritik von Feuerbach an hat daher seine Berechtigung. Denn sie zeigt: man muss durch diese Kritik hindurchgehen, dann kommt man zu einem geläuterten Begriff – und das meine ich mit „besserer Theologie“.

 

A: Aber wie steht es etwa um den Islam? Gibt es da Platz für Religionskritik und Zweifel?

 

H: Ja, muss man nur den Mystiker Rumi lesen. Der Islam wird bei uns immer so interpretiert, als wäre er monolithisch, ist er aber überhaupt nicht.

 

A: Aber schlägt sich das irgendwo in der Praxis nieder?

 

H: Natürlich, das Problem ist nur, dass wir medial vermittelt eher die Probleme sehen – aber diese repräsentieren nicht die Majorität. Wenn das negative Bild tatsächlich stimmen würde, würde unser Zusammenleben ja gar nicht mehr funktionieren.

 

A: Aber trotzdem gibt es anscheinend im Islam keinen Mechanismus, der die Gewalt hintan halten kann.

 

H: Gab es im Christentum einen Mechanismus, der die Kreuzzüge hintan halten konnte?

 

A: Mittlerweile glaube ich nicht, dass es das noch geben könnte.

 

H: Warum? Weil die Religion mittlerweile zu unbedeutend geworden ist? Weil wir sie nicht mehr ernst nehmen? Oder schärfer gefragt: Warum gibt es im Christentum und Judentum keine Selbstmordattentäter?

 

A: Vielleicht gibt es keine entsprechenden Verheißungen, dass im Paradies etwas auf Christen wartet…

 

H: Das ist jetzt aber eine arge Stereotype über den Islam. Nein, Religion hat tatsächlich das Potential, benutzt zu werden, um Leute zu indoktrinieren. Deswegen ist Religion keine harmlose Sache und ich glaube, das gilt für alle Religionen. Als Gegenmittel würde ich da sagen, dass die beste Waffe gegen Radikalisierung nicht weniger Religion sondern bessere Theologie ist.

 

Erschienen in "Die Furche" am 23. Dezember 2010

 


Foto: Henning Klingen
Foto: Henning Klingen

Dem Tod widerstehen

 

Jetzt beginnt wieder die „dunkelste Zeit des Jahres“, die sich mitunter als Ahnung der eigenen Vergänglichkeit bedrohlich auf die Seele legt. Zur Bewältigung kann man auf Religion zurückgreifen – aber auch die Philosophie bietet ein Arsenal an „Kontingenzbewältigungspraxis“

 

Die größte Anstrengung des Menschen besteht – einem Wort Elias Canettis zu Folge – darin, „sich nicht an den Tod zu gewöhnen“. Er ist unausweichlich, dennoch will niemand wahrhaben, dass er sterben wird. Alles beginnt mit einem ersten Atemzug – aber es endet auch mit einem solchen. Die Erinnerung an Tod und Sterblichkeit – eindringlich und bildgewaltig wurde sie uns heuer vor Augen geführt: sei es in Form der mit zahllosen Opfern verbundenen Mahgreb-Revolten, sei es zum zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, oder sei es in der Atem-verschlagenden Todesorgie des Anders Brevik in Norwegen.

 

Das geölte Räderwerk aus Medien, Psychologen und Diagnostikern funktioniert noch. Wer rasche Antworten auf Gewalt und Tod sucht, wird prompt bedient. Wer indes tiefer gräbt, wer sich der Nacht aussetzt, „die kein menschliches Licht erhellt“ (M. Horkheimer), der kommt rasch an denkerische Weggabelungen. Die ausgetretenen, breiten Wege führen dabei in die Kirchen oder in einen achselzuckenden Agnostizismus. Auf dem Marktplatz der „Kontingenzbewältigungsangebote“ sind Religionen noch immer ein „big player“, der mit reicher Tradition und der Kraft des Evangeliums den „Tod des Todes“ (E. Kapellari) verkündet – aber auch die agnostizistische Gleichgültigkeit, die in banale Diesseits-Attitüden mündet, erfreut sich großer Beliebtheit.

 

Es gehört jedoch zu den hartnäckigsten Gerüchten, dass allein der Glaube helfen kann, dem Tod zu widerstehen. Wer dies behauptet, halbiert die Philosophie- und letztlich wohl die gesamte Kulturgeschichte. Denn längst haben die modernen Gesellschaften angefangen, nicht nur ihre moralischen Ressourcen selbst zu generieren. Auch der Schrecken vor dem Tod ist in seiner ganzen Tiefe und der darin verborgenen Hoffnung nachmetaphysisch durchwanderbar geworden. Dafür stehen so schillernde Namen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – aber auch ein Zeitgenosse wie der Philosoph Burkhard Liebsch oder der zu Unrecht in Vergessenheit geratene russisch-französische Philosoph Leo Schestow.

 

Gemeinsam ist ihnen allen, dass der Tod als Tod des Anderen, als Tod, der mich als Überlebenden zurücklässt, das größte Ärgernis darstellt, dem es Widerstand zu leisten gilt. Denn – wie es Liebsch formuliert – ein Leben, „das dem Tod des anderen zu nahe gekommen ist, wird zum beschädigten Leben, zum Über-Leben“. In der Tat verschont der Stachel des Todes nichts, so dass jede Rede vom gelingenden, vom glückenden Leben immer schon im Lichte des „äußersten Punktes der Verzweiflung“ steht und zu einem Leben in „ständiger Abschiedlichkeit“ wird, so Liebsch.

 

Wenn Adorno in seiner berühmten Aphorismensammlung „Minima Moralia“ entsprechend formuliert, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ geben könne, so ist das nicht etwa eine schillernde Perle nachtschwarzer kritischer Geschichtsphilosophie, sondern vielmehr eben dieser Begegnung mit dem Tod des Anderen geschuldet. Eine Begegnung, die den Namen Auschwitz trägt und die die eigentliche geheime Quelle aller Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule – letztlich bis hin zu Jürgen Habermas – darstellt.

 

Gewiss, dieser äußerste Punkt der Verzweiflung markiert stets den Graubereich zwischen Philosophie und Theologie. Entsprechend bleibt selbst ein betont nachmetaphysisches Denken, d.h. ein Denken, dass sich einem klaren Gottesbegriff versagt, dennoch theologisch affiziert. Bezeichnenderweise ist es Adorno, der im letzten Text der „Minima Moralia“ schreibt: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“

 

Während die Kritische Theorie – wenn auch nur in Restbeständen – in den Kanon moderner Philosophie aufgenommen wurde, ist dem russischen Philosophen Leo Schestow diese Ehre nicht zuteil worden. Dabei bemüht sich gerade dieser 1866 in Kiew geborenen und schließlich 1938 in Paris gestorbene Denker wie kaum ein zweiter darum, die Philosophie dadurch zu reformieren, dass sie die Ketten kausaler Logik, die letztlich den Erfahrungen des Einzelnen gleichgültig gegenübersteht, durchbrechen und das Hoffen als Ahnung des ganz Anderen neu lernen müsse.

 

Dem umfassenden Anspruch der Frankfurter nicht unähnlich, zielte auch Schestow auf eine Radikal-Reform – denn auch er blickte auf eine radikale Erfahrung zurück: Die Erfahrung des Todes in Form der russischen Revolution 1905 mit seiner ungezügelten Gewalt sowie der Tod seines Sohnes im Ersten Weltkrieg. So konnte Schestow in seinem Hauptwerk „Athen und Jerusalem“ (1938) formulieren: „Ein menschliches Denken, das dem Tod in die Augen sehen will und kann, ist ein Denken anderer Dimensionen als jenes, das sich vom Tode abwendet und den Tod vergisst.“ Der Tod – er verleiht dem Denkenden „neue Augen“.

 

Schestows Philosophie ist daher ein einziges großes „Memento Mori“, sie ist Einspruch gegen die kalte Gleichgültigkeit einer Philosophie, die auf der Suche nach dem Unvordenklichen ihre Opfer übersieht; und sie mahnt ein Denken ein, für das „menschliche Tränen mächtiger sind, als jene Notwendigkeiten, die durch augenscheinliche Einsichten festgestellt werden“. So kann Schestow – wohlgemerkt als Philosoph – formulieren: „Gott sagen heißt, dem Tod widerstehen“.

 

Wer die breiten Wege religiöser Kontingenzbewältigung nicht gehen kann, wem die Botschaft von der Auferstehung in der Dunkelheit des Todes nicht mehr den Weg zu leuchten vermag, dem sei als Strohhalm der folgende Satz Horkheimers ans Herz gelegt: „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich“. Diese Hoffnung, so notierte er, ist vielleicht das einzige, das ihn angesichts der Verzweiflung davon abhält, „hier alles dem Erdboden gleichzumachen“.

 

Erschienen in: Die Furche, ###

 


Foto: fiph.de
Foto: fiph.de

"Der Atomausstieg ist eine realistische Perspektive"

 

Der Hannoveraner Theologe Jürgen Manemann über die Atom-Debatte in Deutschland, die Möglichkeiten einer Energiewende und die unerwartete Renaissance des Wiener Technikphilosophen Günther Anders


Herr Prof. Manemann, die Regierung Merkel hat aufgrund der atomaren Katastrophe in Japan sieben AKW zumindest vorübergehend vom Netz genommen. Handelt es sich dabei um Beschwichtigungspolitik oder um Vorzeichen einer echten Wende?

 

Ich hätte mir schon im letzten Jahr vor der Entscheidung zur Laufzeitverlängerung ein Moratorium gewünscht. Das hätte eine breite gesellschaftliche Debatte über Atomenergie und auch über regenerative Energien möglich gemacht. Diese Chance wurde vertan. Das ist umso bedauerlicher, als der Atomkompromiss aus dem Jahr 2001 die Gesellschaft befriedet hat. Es war ein Kompromiss für Gegner und Befürworter der Atomenergie. Wenn es heute tatsächlich eine strenge Überprüfung geben sollte, es also nicht um Beschwichtigungspolitik geht, so verdient die Bundeskanzlerin dafür Lob und keine Kritik.

 

Zuvor galt Atomenergie der Politik als unentbehrliche Brückentechnologie – und auf einmal kann man sieben AKW vom Netz nehmen ohne Stromengpässe. Das macht doch stutzig, oder?

 

Immer wieder wurden in der Vergangenheit Kernkraftwerke vom Netz genommen, ohne dass Engpässe in der Stromversorgung eingetreten sind. Sie müssen wissen, dass Deutschland Atomstrom in andere Länder exportiert, selbst also gar nicht auf so viele Atomkraftwerke angewiesen ist.

 

Wie müsste eine echte Wende in der Energiepolitik aussehen?

 

Die Kernenergie ist Ausdruck einer Lebensweise, die von der technischen Machbarkeit und vom Glauben an stetiges Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden bestimmt ist. Mittlerweile scheinen beide Annahmen widerlegt: Wachstum führt nicht automatisch zu Wohlbefinden – im Gegenteil: Der Wohlstand steigt und wir werden immer unglücklicher! Eine echte Wende würde daher bei der tiefen Frage ansetzen müssen: Wie wollen wir eigentlich zusammen leben? Was ist ein humanes und gutes Leben?

 

Welche Lektion erteilt uns Fukushima?

 

Fukushima stellt uns vor die Wahl: Nehmen wir die Katastrophe tatsächlich in der ganzen Dramatik wahr, so dass sie unsere Haltung auch hierzulande verändert? Oder bleiben wir weiterhin apokalypseblind, wollen wir nicht wahrhaben, was sich vor unseren Augen abspielt? Ich hoffe, dass wir endlich unsere verharmlosende Rede von Risiken im Blick auf unsere alten Atomkraftwerke aufgeben. Ein Risiko ist eine gedanklich vorweggenommene Katastrophe. Aber mit dieser aktuellen Katastrophe wird die Unterscheidung zwischen dem, was wir in Gedanken als ein Risiko vorstellen und der tatsächlichen Katastrophe geringer.

 

Spielt für die Wahrnehmung der Katastrophalität auch die mediale Vermittlung eine Rolle?

 

Ja, denn zu jedem Begriff gehören Bilder. Zur Atomkatastrophe gehörten bislang die Bilder von Tschernobyl. Diese waren geprägt von Bildern einer technisch rückständigen Sowjetunion. Durch Japan wird der Begriff der nuklearen Katastrophe mit der Vorstellung einer hoch technisierten Industriegesellschaft verbunden. Das irritiert – aber es bietet auch die Chance, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen und die Katastrophe bei uns zu denken.

 

Sie spielen damit auf den Wiener Philosophen Günther Anders an, der bereits vor einem halben Jahrhundert von der Apokalypseblindheit gesprochen hat. Was meinen Sie mit diesem Begriff?

 

Apokalypse-Blindheit meint die Unfähigkeit, eine Katastrophe als Katastrophe vorstellen zu können. Diese basiert nicht zuletzt darauf, dass der Mensch weniger vorstellen als herstellen kann. Aber auch unsere Gefühle lassen uns bei der Katastrophe im Stich: Wie sollen wir abertausend Tote betrauern? Der einzelne scheint zur Zahl innerhalb einer Statistik zu werden, die vorzustellen uns emotional überfordert.

 

Anders hat festgestellt, dass die Menschheit in eine neue Phase eintritt, wo sie Dinge technisch produziert, die sie selbst nicht mehr beherrschen kann. Ist es an der Zeit, diese Technikkritik in ihrer tiefen Melancholie zu entstauben?

 

In der Tat: Wenn Anders feststellt, dass wir weniger vorstellen als herstellen können, dann gilt das auch heute. Wir können das, was wir herstellen, nicht wirklich in seiner Tiefe erfassen – weder kognitiv noch emotional. Aber auch das hat Anders erkannt: wir kommen nicht mehr hinter den Zustand der verlorenen Unschuld zurück – denn wir sind unfähig, das einmal Gekonnte nicht mehr zu können. Wir scheinen nicht an einem Mangel an Können zu leiden, sondern an Nichtkönnen.

 

Zurück zur Atomenergie: Das „Forschungsinstitut für Philosophie Hannover“, das Sie leiten, hat im Vorjahr rund um die Laufzeitverlängerung eine Streitschrift unter dem Titel „Kirche – Klimawandel – Kernenergie“ herausgegeben. Wie finden diese drei Begriffe zueinander?

 

Wer heute von der Kernenergie spricht, der darf vom Klimawandel nicht schweigen. Der Klimawandel bedroht das Leben der gegenwärtig und zukünftig Lebenden – eine Herausforderung, die eine Kirche, die den Gott des Lebens verkündet, in ihren Grundfesten erschüttern muss.

 

Was sind die Argumente, die eine solch vehemente Ablehnung der Kernenergie rechtfertigen?

 

Bei der Kernenergie handelt es sich um eine Technologie, die aufgrund der Risiken die Lebensbedingungen nicht nur gegenwärtiger, sondern vor allem zukünftiger Generationen gefährdet. Unsere Atomkraftwerke sind zwar nicht durch Erdbeben gefährdet, aber immer noch durch menschliches Versagen oder durch Kettenreaktionen. Auch ist keine unserer Anlagen vor terroristischen Angriffen geschützt. Außerdem besteht die Gefahr des terroristischen Zugriffs auf potenziell kernwaffenfähiges Material. Auch das Problem der Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle ist ungeklärt – mit der Folge, dass wir weder für die gegenwärtige noch für die kommenden Generationen wirklich Verantwortung übernehmen können. Wir haben ein Flugzeug gestartet, ohne am Ankunftsort eine Landebahn zu bauen.

 

Gibt es eine spezifisch christliche Argumentationslinie in diesen Fragen?

 

Wir haben in unserer Stellungnahme bewusst nicht den Begriff der Schöpfung gewählt, sondern mit dem Prinzip des Gemeinwohls argumentiert. Wenn nun der Klimawandel das Zusammenleben gefährdet, dann muss eine Diskussion über eine Ethik der Nachhaltigkeit von der Frage ausgehen, was denn wohl im Interesse aller Menschen liegt. Die Rede vom Gemeinwohl bezieht sich auf solche Güter, die für alle gegeben sein müssen. Dazu gehören Güter, derer ein Mensch bedarf, um sein physisches Überleben zu sichern, aber auch Güter, die es ihm ermöglichen, sich kulturell zu betätigen. Daraus ergibt sich, dass lebenszuträgliche und zukunftsfähige Umweltbedingungen ein Gemeinwohlgut sind.

 

Anders gesagt: Sie vertrauen der Überzeugungskraft des Schöpfungsgedankens nicht mehr?

 

Wir hatten den Eindruck, dass die Rede von der Schöpfung inflationär geworden ist und zudem eine Stoßrichtung nach Innen hat. Wir wollten mit der Stellungnahme aber auch Menschen außerhalb der Kirche ansprechen – und das ist uns in der Tat gelungen.

 

Ist eine atomenergiefreie Zukunft überhaupt ein seriöses Szenario? – Und wenn ja – in welchem Horizont?

 

Ja, ganz sicher. Der Atomausstieg ist eine realistische Perspektive. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat ein Gutachten erstellt, das davon ausgeht, dass wir im Jahr 2050 zu 100 Prozent unseren Energiebedarf durch regenerative Energietechniken decken können. Eine Laufzeitverlängerung ist diesem Gutachten zufolge falsch. Die Brückentechnologie ist nicht die Kernenergie, sondern Energieeffizienz.

 

Die deutsche Bischofskonferenz hat sich auf ihrer Frühjahrsvollversammlung nur in Randbemerkungen zur Atom-Lage in Deutschland geäußert – eine versäumte Chance?

 

Selbstverständlich hätte ich mir gewünscht, wenn die Bischöfe sich hier eindeutiger positioniert hätten. Aber damit ist es ja nicht getan. Worauf es ankommt, ist, dass die Kirche keine Moralpredigten hält, sondern zeigt, dass ihre Perspektiven Konsequenzen zeitigen für das eigene Verhalten. Da gibt es mutmachende Beispiele in vielen Gemeinden. Der Diözesanrat der Diözese Hildesheim hat etwa einen Energieleitfaden erarbeitet, der den Gemeinden helfen soll, vor Ort Klimaschutz zu praktizieren. Denken wir daran, es heißt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

 

Erschienen in "Die Furche", ###



Foto: Herder-Verlag
Foto: Herder-Verlag

Mystik der offenen Augen

 

Allerorts ist heute von Spiritualität und Mystik die Rede – gemeint ist dabei vor allem eine Technik der Versenkung ins eigene Ich. Der Theologe Johann Baptist Metz plädiert nun dafür, die politische Mystik der Bibel wiederzuentdecken, die „Mystik der offenen Augen“

 

Erschienen in: Die Furche, ###

 

„Der Christ von morgen wird ‚Mystiker‘ sein, oder er wird nicht mehr sein“. Wohl kaum ein Satz des Theologen Karl Rahner wird heute häufiger zitiert, wenn es gilt, die Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, dass Religion und Kirche in den Stürmen der Säkularisierung auch zukünftig nicht untergeht. Tatsächlich verweisen Trendforscher seit den 1990er Jahren auf die wachsende Bedeutung von Spiritualität und Mystik – auch wenn die konkrete Bedeutung oftmals verwaschen undeutlich bleibt. Von Seiten der Theologie wurden solche Hinweise zumeist dankbar aufgegriffen. Haben wir es nicht schon immer gewusst – der Mensch ist und bleibt halt ein homo religiosus!

 

Doch abgesehen von der Frage, wo die spirituelle Buntheit sich – gerade unter der Jugend – tatsächlich zeigt und ob es tatsächlich zu einem „In Gott eintauchen, bei den Menschen auftauchen“ kommt, wie es der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner formuliert, lohnt die Frage, ob diese Frömmigkeitsformen noch auf biblischem Boden stehen. Massive Zweifel daran hegt etwa der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz. Plakativ stellt er in einem unlängst bei Herder erschienenen Buch diese „Mystik der geschlossenen Augen“ der biblischen „Mystik der offenen Augen“ gegenüber. Tatsächlich trat Metz mit dieser Kritik bereits seinem Lehrer Rahner entgegen, dem er eine eben solche „Mystik der geschlossenen Augen“ vorwarf.

 

Die christliche Gotteserfahrung hingegen sei laut Metz „eingeschworen auf die Wahrnehmung des Schicksals der Anderen“. Wer so Gott sage, nehme zugleich die Verletzung der eigenen Gewissheiten durch das Leiden der Anderen in Kauf. Der Vorwurf lautet damit zugespitzt: Was wir heute als neue Formen der Spiritualität und Mystik kennzeichnen, ist antlitzlose, von jedem Schrei nach Gerechtigkeit entkernte Naturmystik – und damit letztlich eine verkürzte, eine halbierte Mystik. Biblisch wäre eine Antlitz-suchende politische Mystik in der Nachfolge Jesu.

 

Was veranlasst den Theologen zu dieser harschen Kritik? Ist sein Zwischenruf mehr als der bloße Vorbehalt eines wütenden alten Mannes? Ja. Denn Metz‘ Plädoyer für einen politisch gewendeten Mystik-Begriff basiert auf einer scharfen, nicht leicht von der Hand zu weisenden Zeitdiagnose: So macht er in den gegenwärtigen Spiritualitätswolken zwei Gefahren aus: die Gefahr einer „theologischen Entzeitlichung“ der Rede von Gott und die Gefahr einer Privatisierung der biblischen Botschaft. Wo die neue Spiritualität auf das Ewige, Jenseitige abhebt, ruft der biblische Glaube dazu auf, das Diesseits nicht vorzeitig aufzugeben; und wo der spirituelle Mensch „Deus caritas est“ seufzt – Gott ist Liebe –, da droht er die eigentliche – gerade nicht private, sondern umfassende Botschaft der Gottesgerechtigkeit zu unterschlagen. Denn Gott – so Metz in einer scharfen Wendung gegen die Enzyklika Benedikts XVI. – sei nicht nur Liebe, sondern immer auch Gerechtigkeit.

 

Anders gesagt: Es ist gerade die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig leidenden Opfer, die Theodizeefrage, die jede mystische Beruhigung des Ich durchbricht und Unruhe stiftet im Horizont spiritueller Erfahrung. Wenn schon der Schriftsteller Heiner Müller sagen konnte, dass Optimismus im Blick auf die menschliche Leidensgeschichte ein „Mangel an Information“ sei – um wie viel mehr gilt dies für den Blick des auf Gottes Gerechtigkeit hoffenden Menschen!

 

Biblische Mystik eröffnet den Horizont auf das ganz andere hin – sie verschließt ihn nicht durch Versenkung ins eigene Ich, sondern ruft in Begegnung mit dem Nächsten. Sie verweist den Christen in eine Diesseitigkeit ohne kontemplative Hintertür, in radikale Proexistenz; denn – so schrieb es der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer aus der Nazi-Haft: „Das Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben werden“.

 

Überhaupt Bonhoeffer. Noch aus dem Kerker und unmittelbar vor seiner Hinrichtung als konspirativer Widerständler gegen Hitler schrieb er, dass unser Christsein heute nurmehr in zweierlei bestehen könne: „Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Sein eigenes Leben gibt Zeugnis davon, dass es sich dabei nicht um zwei unabhängige Momente handelt, sondern um einen einzigen, beide Elemente verbindenden Vollzug christlichen Glaubens. Die Mystik, die Bonhoeffer lebte, erkannte, wie er in einem anderen Brief schreibt, das Jenseitige nicht im „unendlichen Fernen“, sondern im Nächsten. Seine Fragen bleiben: „Was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion? Wie sind wir έκ-κλησία, Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige?“

 

Eine Antwort wäre eine Wiederentdeckung eben jener Mystik der offenen Augen. Mit ihrer genuin-praktischen Flanke weigert sie sich, dem neospirituellen Reflex zu folgen und die Augen im gleißenden Licht der unüberwindbar scheinenden gesellschaftlichen Herausforderungen schmerzenden Augen zu schließen – und sich damit letztlich zu Komplizen der herrschenden Apathie zu machen. Sie wäre damit im besten Sinne Alltagsmystik, eine Lebenshaltung, die an der Möglichkeit einer Gegen-Geschichte, am Aufleuchten des Heils durch alle säkulare Profanität hindurch festhält. Wohlgemerkt: durch die Profanität hindurch, um sie zu bewältigen – nicht, um sie zu negieren.

 

Gewiss, wo das Ich in den Mühlen der Ökonomie und der Banalitäten zerrieben zu werden droht, hat das Individuum alles Recht der Welt, sich nach Halt, nach Orientierung umzusehen, nach einem neuen Fundament zu suchen, nach Rettung zu rufen. Eine biblische Lebensweise „vom Anderen her“ ruft jedoch in Erinnerung, dass es kein Leben ohne die Antlitze der Anderen gibt, kein Hoffen für mich allein. Denn was bedeutet die Rede von der universalen Gleichheit aller Menschen anderes als dies: Dass es kein Leiden in der Welt gibt, das uns nichts angeht.

 

Die Sprache des politischen Mystikers ist im Übrigen nicht die Sprachform des gecoachten Realpolitikers. Es ist – das Gebet. Denn das Gebet in der Nachfolge Jesu ist immer zweierlei: Ein Schrei der Verlassenheit in der bitter-süßen Gottlosigkeit der Welt – und die damit einhergehende Bitte um Gott selbst – ganz biblisch im Übrigen, denn mit ihr endet das Neue Testament: „Maranatha! Komm, Herr Jesus!“

 

 


Fotoausschnitt: Wikipedia
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Als wenn es keinen Gott gäbe…

 

Ist unsere moderne Welt religionsfeindlich oder religionsfreundlich? Die Ausweitung der Kampfzone hat längst auch die Religion erfasst, die Rede vom „aggressiven Säkularismus“ wird immer mehr zum Kampfbegriff und droht, die redliche Diskussion über Säkularisierung zu überlagern

 

Erschienen in: Die Furche, April 2011

 

Wie oft mag sich der deutsche Rechtsphilosoph und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde schon gewünscht haben, diesen Satz niemals geschrieben zu haben! „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Durch diesen einen Satz, nachzulesen in seinem Werk „Staat, Gesellschaft, Freiheit“ von 1976, avancierte Böckenförde – ungewollt und ungerechtfertigt – zum Liebling des religiösen Feuilletons und zugleich zum Gewährsmann jener, die aller Marginalisierung zum Trotz einen religiösen dritten Frühling wittern. Ein religiös ausgemergelter Rechtsstaat, so das Argument, trage einen gefährlichen dialektischen Kern in sich, wo er jene Institutionen – gemeint natürlich vor allem die christlichen Kirchen – ausbluten lässt, die Empathie, Solidarität und Nächstenliebe, kurz: die Grundlagen unseres Zusammenlebens regenerieren.

 

Im vergangenen Jahr platzte Böckenförde offenbar der Kragen. Gemeinsinn und Ethos seien zwar tatsächlich jene Momente, die es vor der Säkularisierung zu schützen gelte, die Frage nach den Quellen führe aber nicht unumwunden zu den Futtertrögen der etablierten Religionsgemeinschaften. „Gelebte Kultur“ sei ein eben solcher Ethos-Stifter, auch in „Aufklärung und Humanismus“ ließen sich Quellen des Gemeinsinns ausmachen, „aber nicht automatisch bei jeder Religion“.

 

Das Beispiel zeigt zweierlei: zum einen, dass die Diskussion um die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft erneut auf der Tagesordnung steht; zum anderen, dass diese Diskussion sich mittlerweile selbst gewissermaßen säkularisiert hat: sie ist aus den Hörsälen und Diskurscafes der Universitäten ausgewandert in die politischen und zivilgesellschaftlichen Vorfeldorganisationen, wo sie sich zu einem kämpferisch anti-modernen Programm gemausert hat. Auffälligstes Zeichen dieser Bewegung ist eine kleine, aber entscheidende begriffliche Verschiebung: So ist derzeit in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr von Säkularisierung die Rede, sondern von „Säkularismus“. Mehr noch, sprechen Politiker und Kirchenvertreter doch gar von einem „aggressiven Säkularismus“, der gerade in den westlichen Ländern, auch in Europa, um sich greife.

 

Dabei scheint sie nicht zu irritieren, dass das Adjektiv „aggressiv“ personale Entscheidungen, nicht jedoch a-personale strukturelle Weichenstellungen beschreibt, in denen jedoch Säkularisierungsprozesse ablaufen. Ungeklärt bleibt auch der Unterschied zum „Neuen Atheismus“, der tatsächlich – da durch einzelne Leitfiguren wie R. Dawkins vermittelt – Formen der Aggressivität annehmen kann. Aber kennen Sie „aggressive Säkularisierer“? Die Unbestimmtheit zwischen hohler Phrase und unheil-ahnendem Raunen machen letztlich den Reiz aus. Doch wo die Säkularisierung zum „ismus“ wird, lauert die ideologische Entstellung.

 

Gewiss, Säkularisierung hat ein dialektisches Potential. Sie kann denaturieren, etwa indem sie stumm bleibt gegenüber Gewalt, indem sie Egalität mit Gleichgültigkeit verwechselt, indem sie den sensus wenn schon nicht für das Heilige, so doch zumindest für Grenzüberschreitungen verliert. Wer jedoch vom aggressiven Säkularismus spricht, ist nicht an Differenzierungen interessiert – es geht um einen Gegenangriff. Geradezu entfesselt scheinen entsprechend jene katholischen Kräfte, die die Welt vor dem Abgrund sehen, moralisch ausgelaugt, vom Pluralismus zerrüttet, gleichgültig gegen das Heilige, gegen Werte und Traditionen. Angefeuert durch die Medien, die ihren Schlachtruf verstärken, ziehen sie ins entscheidende Gefecht – die „Re-Evangelisierung“.

 

Der jüngste Coup der katholischen Wut-Bürger ist zugleich der bedenklichste: so nehmen sie – angestachelt durch die Berichte über die zweifellos tragischen Attentate auf koptische Christen in Ägypten, über Vertreibungen im Irak oder ihre Marginalisierung in arabischen Ländern – immer häufiger das Wort von der „Christenverfolgung“ in den Mund – und öffnen damit zugleich die Büchse der Pandora. Denn wer nach sozialen Hintergründen der Gewaltexzesse fragt oder Differenzierung verlangt, wer die Zahlenspiele zwischen 200 und 300 Millionen verfolgten Christen anzweifelt, steht rasch im Geruch, den Opfern notwendige Solidarität vorzuenthalten.

 

So zeigt sich, dass die Schlachtrufe nicht nur Kampfparolen in Richtung einer subtilen staatlicher Diskriminierung religiöser Menschen sind, sie richten sich vielmehr auch als Kampfansage an die eigenen Brüder im Glauben: denn sie spalten, statt zu versöhnen, indem sie die Bedenkenträger, die Zweifler, die verhassten „linken Theologen“ und die wenigen religiösen Verteidiger der Säkularisierung verächtlich einer unangemessenen „political correctness“ zeihen oder aber – noch beliebter, weil päpstlich gedeckt – sie des theologischen Relativismus bezichtigen.

 

Der bittere Samen geht indes auch in Europa auf, wo zuletzt das „Observatory on Intolerance and Discrimination against Christians“ mit seinem „Shadow Report“ einen Bericht vorlegte, der auch in Europa tätliche Attacken gegen Geistliche, religiöse Veranstaltungen, Kirchen oder Friedhöfe ahndet, aber auch die Entfernung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum als Zeichen wachsender Intoleranz gegen Christen sieht. Und prompt findet sich auch dort das Signalwort vom „radikalen Säkularismus“, der neben einer „übertriebenen Political Correctness“ der Christen Grund für ihre Diskriminierung sei.

 

Die Bastion, die es zu stürmen gilt, ist schnell ausgemacht: so appelliert der Bericht an die EU-Grundrechteagentur, die Themen Religionsfreiheit, Redefreiheit und Gewissensfreiheit „zu Prioritäten ihrer Arbeit“ zu machen und eine Sammelstelle für Akte der Christenverfolgung einzurichten. Selbst die große europäische Bühne ist vor den „ismen“ also nicht mehr gefeit. So mahnte unlängst der ehemalige britische Premier Tony Blair zur Zusammenarbeit der religiösen Führer, um der Gefahr des religiösen Extremismus und – richtig erraten – einem aggressiven Säkularismus zu begegnen.

 

Und der Vatikan? Der duldet dieses Spektakel nicht nur, er befeuert es noch als Stichwortgeber. So führt selbst Papst Benedikt XVI. – etwa bei seinem Großbritannien-Besuch – die Rede vom „aggressiven Säkularismus“ im Mund. Und in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner unterstrich er entsprechend, dass die großen Feinde der Religionsfreiheit der religiöse Fundamentalismus und der Säkularismus westlicher Provenienz seien. Ins selbe Horn blasen auch engste Mitarbeiter wie Erzbischof Rino Fisichella, Präsident des neu geschaffenen Rates für die Neuevangelisierung, der vor einer wachsenden „Christianophobie“ in Europa warnt.

 

Gewiss, die Schubumkehrer haben einen großen Vorteil: sie können sich auf die moderne religionssoziologische Einsicht berufen, dass die klassische Säkularisierungsthese nicht mehr funktioniert. Galt es lange Zeit als ausgemacht, dass Religion als Amalgam von Tradition, Institution und Mythos die gesellschaftliche Modernisierung hemme und also ein Auslaufmodell sei, so hat sich in den vergangenen zehn Jahren – befeuert vor allem durch die Großen der Philosophie, Jürgen Habermas und Charles Taylor – die Diskussion verlagert. So schleuste Habermas im Jahr 2001 den schillernden Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ in die Debatte ein, Taylor forderte noch im Vorjahr, man müsse Säkularisierung „neu denken“ insofern Menschen heute durchaus in der Lage seien, säkular und religiös zugleich zu sein.

 

Sollte tatsächlich die Rede von der „Wiederkehr der Religion“ philosophisch geadelt werden? Es lohnt der Blick auf das Kleingedruckte: so entgegnete Habermas bereits mehrfach, dass „postsäkular“ gerade keinen Abgesang auf die säkulare Gesellschaft bedeute, sondern vielmehr die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von religiösen und säkularen Elementen durch die Modernisierungsprozesse hindurch. Der Kniefall vor dem Numinosen bleibt aus, denn selbst in einer postsäkularen Gesellschaft bleibe das „nachmetaphysische Denken säkular“, d.h. es kommt selbst durch starke religiöse Ambitionen der Lebenswelt zu keiner Umkehr etwa in den staatlichen Entscheidungsprozessen.

 

Welche Haltung entspricht also dem säkular-religiösen Menschen? Einen Tag vor dem Tod Johannes Pauls II., am 1. April 2005, hielt Kardinal Josef Ratzinger einen Vortrag über die kulturelle Krise Europas. Darin wendet er sich am Ende mit einem „Vorschlag an die Säkularisten“. Durch Maßlosigkeit und eine in ihrer ganzen Dialektik nicht durchtauchten Aufklärung sei der Mensch, der sich von Gott losgesagt hat, an die Grenzen des Erträglichen gegangen. Daher seine Aufforderung an die säkularen Zeitgenossen: Lebt doch „etsi deus daretur“ – als wenn es Gott gäbe! Ein Taschenspielertrick, der – mit Verlaub gesagt – säkulare Quellen von Moral und Kultur, auf die Böckenförde hinweist, nicht ernst nimmt und wohl kaum Gehör findet.

 

Warum nicht den gegenteiligen Weg einschlagen und leben „etsi deus non daretur“ – als wenn es keinen Gott gäbe? Für Christen bedeutet dies, die Säkularisierung endlich als demokratische Produktivkraft ernst zu nehmen, nicht aus ihren Pflugscharen wieder Schwerter zu schmieden und mit antireformatorischem Eifer gegen aggressive Säkularisten zu Felde zu ziehen. Für säkulare Zeitgenossen hingegen ist ein Leben „als wenn es keinen Gott gäbe“ eine Alltagserfahrung – aber vielleicht zugleich auch der augenzwinkernde Ruf, der geheimnisvollen Tiefe des Konjunktivs zu folgen – jenem Rockzipfel des Göttlichen, der die Erde streift, um sogleich wieder – noch bevor er begriffen wird – um die Ecke zu verschwinden.

 

Kurz gesagt: Zu leben, „etsi deus non daretur“ entspräche der modernen Geisteshaltung eines nachmetaphysischen und zugleich postsäkularen Zeitgenossen, der zumindest im Gestus des Vermissens noch um die Leerstelle weiß, die jene Kraft, die wir als Gott zu bezeichnen pflegen, ausgefüllt hat.

 

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Die anschwellende Rede vom "aggressiven Säkularismus" droht, eine seriöse und theologisch aufrichtige Diskussion der Säkularisierung zu verhindern.
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Image aus dem Zerstäuber

 

Von allen Sinnesorganen will die Nase am edelsten betrogen werden. Dabei entscheidet sie mehr als alle anderen Sinne über Image, Gedeih und Verderb. Ein Ausflug in die Soziologie der Sinne mit dem Philosophen Georg Simmel und dem Parfummarkt-Experten Bodo Kubartz

 

Erschienen in: Die Furche, April 2011

 

Es muss nicht immer der Geruch von Schießpulver in der Luft liegen, wenn Geschichte geschrieben wird. Manchmal ist es auch der Duft von Farn und Lavendel. So etwa 1793, als Marie Antoinette dem Tod unter dem Schafott entgegensah, umduftet von „Quelques Fleurs“, einem Duft ihres Lieblings-Parfümeurs, der ihr Mut machen sollte – und der in der heurigen Saison wieder angesagt ist, so Bodo Kubartz, Parfummarkt-Experte und Co-Autor des „Großen Buches vom Parfum“. Gemeinsam mit Frank Schnitzler, einem der bekanntesten Parfum-Dojens Deutschlands, hat Kubartz Geschichte und Geschichten von über 1.000 Parfums weltweit zusammengetragen. Wer immer schon einmal wissen wollte, wie sich der Herrenduft von Ermenegildo Zegna in Worte fassen lässt – „Sizilianische Bergamotte tanzt mit Rosmarin und mystischer Kasowarifrucht in den Tag“ –, der findet dort Antwort und Anregung.

 

Aber das Buch bietet nicht nur einen Einblick in die feine Lebensart und das big business mit den edlen Wässern – es zeigt zugleich: jede Generation und jede Geschichte kennt auch ihre je eigenen Düfte. Parfum-Moden sind wie „Spiegelbilder der Gesellschaft“ und zeigen „soziale Veränderungen“ an, ist Kubartz überzeugt: Die späten 1980er und 1990er Jahre seien etwa durch „schnörkellose und klare, kaum verspielte Düfte gekennzeichnet“. Die Globalisierung kam nach 1989 erst in Fahrt, die Gesellschaften des Westens sortierten sich neu, Aufregung in der Nase konnte man da nicht brauchen. Einen auch geruchlichen Einschnitt stellt laut Kubartz der 11. September 2001 dar: In den Nasen der Welt habe sich der Verlust der Gewissheiten, die völlige Entgrenzung und das Gefühl des Ausgesetzt-Seins nicht zuletzt in komplexeren und experimentellen Düften niedergeschlagen.

 

Nicht umsonst hat der Kulturphilosoph Georg Simmel bereits vor rund 100 Jahren festgestellt, dass die „soziale Frage nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage“ darstellt. Kein anderes Sinnesorgan befindet so rasch und unbestechlich über Zu- und Abneigung, über Gewogenheit, gar erotische Anziehung wie die Nase. Über wem sie gerümpft wird, hat bereits das Nachsehen, wen man „gut riechen“ kann, hat gute Karten. Entsprechend viel Energie investieren die Menschen heute in die edle Sinnestäuschung. So gaben die Österreicher laut einer Studie des Instituts Evolaris etwa im Jahr 2004 rund 150 Mio. Euro für Parfums und Deos aus, insgesamt investiert man rund 1,2 Mrd. Euro in die Körperpflege – Tendenz steigend.

 

Selbst die Therapiebranche hat sich des verkanntesten aller Sinne angenommen: so werden Düfte mittlerweile in der Aromatherapie zur gezielten Stimulierung des Hirns, zur Steigerung des Wohlbefindens und zur Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen eingesetzt. Die „parfümistische Eroberung der Psyche“, vom „Spiegel“ bereits vor rund 25 Jahren gefordert, sie ist längst Realität geworden.

 

Dabei reicht die Geschichte des Aufstiegs der feinen Duftwässerchen viel weiter zurück – genau genommen bis in die 1920er Jahre. Mit steigender Verfügbarkeit der Duftstoffe und mit ihrer synthetischen Reproduzierbarkeit konnten Düfte in einer bis dahin nicht da gewesenen Qualität produziert werden. „Chanel No. 5“ aus dem Jahr 1921 steht für den Erfolg und den Aufstieg zum Weltgeschäft.

 

Mittlerweile werden Düfte längst nicht mehr Tropfen für Tropfen angerührt – sie entstehen am Computer aus einem Formelgewirr, oftmals in netzwerklicher Kooperation von Parfümeuren über die ganze Welt verteilt. Wie bei anderen Gütern der Kulturindustrie, so hat sich auch bei der Bukett-Kunst eine Marketing-Maschinerie vor die Laboratorien geschoben, die Imagetrends ermittelt und in saisonale Flacon-Looks und Nasentauglichkeit ummünzt, weiß Kubartz zu berichten, der in seiner Doktorarbeit die Wissens- und Produktionsflüsse der Parfumindustrie untersucht hat.

 

Seit den 1990er Jahren hat sich schließlich ein hohes Maß an Marktsättigung eingestellt. In der Folge werden die Absatzstrategien immer ausgefeilter. „Nischendüfte“ heißt laut Kubartz das Zauberwort – auch auf der großen „Global Art of Perfumery“-Messe, die am vergangenen Wochenende mehr als 1.100 Besucher und über 100 Aussteller ins deutsche Düsseldorf gelockt hat und die Kubartz mitorganisiert hat. „Slow perfume“ nennt Kubartz diesen Trend – in Anlehnung an den Boom der auf Nachhaltigkeit, Gesundheit und Natürlichkeit setzenden „slow food“-Bewegung. „Entschleunigung als gesellschaftlicher Sehnsuchtswert hat auch die Parfumbranche erreicht“, ist Kubartz überzeugt.

 

Aber es geht – erneut mit Simmel – noch eine Etage philosophischer: So zeigte er sich in seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ überzeugt, dass Sinneseindrücke – im Gegensatz zum philosophischen Mainstream – nichts Äußerliches seien: sie führen vielmehr „in das Subjekt hinein“, da sie erste ein Erkennen des Anderen in seiner Andersheit ermöglichen. Das Auge „entschleiert dem Andern die Seele“, das Ohr das „Momentane“. Der Geruch hingegen entzieht sich laut Simmel jeder Abstraktion. Denn indem wir riechen, ziehen wir das „ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist“.

 

Dabei scheidet der Geruch mehr, als er verbindet, glaubt Simmel. Während Auge und Ohr „Brücken zwischen den Menschen schlagen“, erscheint ihm der Geruchssinn als „dissoziierender Sinn“. Das Parfum sucht diese Kluft zu überwinden. Es fügt dem Subjekt etwas „völlig Unpersönliches“ hinzu, einen fremden Geruch, der aber im Idealfall so mit dem Subjekt zusammenfällt, als ob er ihm selbst entspringe. „Wie die Kleidung verdeckt es die Persönlichkeit mit etwas, was doch zugleich als deren eigne Ausstrahlung wirken soll“. Die Kulturkritik kommt zu ihrer Spitze, wo Simmel hinter dem schönen Schein nicht etwa ein selbstbewusstes Ich erkennt, sondern gerade die ins Individuelle gewandete „Auflösung der Persönlichkeit in ein Allgemeines“.

 

Im Zuge der Jahrhundertwende und der sich dem Ende neigenden spätaristokratischen Gesellschaftsmodelle standen Wert- und Moralvorstellungen auf dem Prüfstand. Anthropologische Tiefenbohrungen sollten neue Gewissheiten schaffen. Entsprechend leitete Simmel auch im Blick auf die Sinne die Frage: „Was ist dieser Mensch seinem Sein nach?“ Er bot darauf keine simple Antwort. Der Mensch erschließt sich für ihn nur im Blick auf die sozialen Verflechtungen und seine stetige Fremdheit. Er werde heute zum „potenziell Wandernden“. Der Mensch als Nomade in dauernder Heimatlosigkeit – dieses Bild bestimmt Simmels Vorstellung vom Menschen in und nach der Zeitenwende.

 

Fremdheit und Ungewissheit gehören fraglos auch zu den konstitutiven Bedingungen moderner Gesellschaftsformen. Menschsein ist zur Hochrisikoform geworden – eine Existenzform, die man gerne durch neue Verwurzelungen zu erden versucht. Das starke Ich, konstituiert weniger über Reflexion als vielmehr über Konsum und Image, bildet eine wesentliche Komponente dieses Umgangs mit Ungewissheit. Düfte helfen dabei, ein Ego zu errichten, wo Unsicherheit herrscht; die individuelle Duftnote gehört zur Bastelbiografie wie der iPad zur Mediengesellschaft. „Das Anderssein wird heute in hohem Maße über sensorische Kanäle kommuniziert“ bringt Kubartz das auf den Punkt.

 

Dabei jedoch – und das lehrt Simmel – strampelt der Mensch sich ab wie ein Hamster im Laufrad, ist sein Streben nach Andersheit doch immer schon gebrochen durch die kulturindustriell verbrämten Güter, mit denen er sie zu befriedigen sucht. Es gibt nichts, was die Kulturindustrie nicht unbeschädigt, entkernt zurückgelassen hat. Wer immer sein Ich durch exklusive Beduftung aufzupolieren versucht, fällt jenem Mechanismus erneut zum Opfer, der das Bedürfnis selbst hervorgebracht hat: der geistlosen Ökonomie, die den Mensch zum Konsument degradiert hat. Ob die Gegenbewegung des „slow perfume“ das Zeug hat, aus diesem Rad auszubrechen, muss daher offen bleiben. Eine Trendwende bedeutet noch keine Bewusstseinswende. Aber es ist ein Anfang.

 

Buchtipp:

Frank J. Schnitzler, Bodo Kubartz: Das große Buch vom Parfum. Collection Rolf Heyne 2011. 400 Seiten. Preis: 30,80 Euro.

 

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Das "große Buch vom Parfum" von Bodo Kubartz und dem deutschen "Parfum-Papst" Frank J. Schnitzler gibt viel "Stoff" her für eine kleine "Soziologie des Riechens"
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Foto: Wikipedia / Mathonius
Foto: Wikipedia / Mathonius

Flaschenpost aus der Musikgeschichte

 

Mit ihrer „70-10“-Tour meldet sich ein Urgestein der Popgeschichte zurück: Supertramp. Auch vierzig Jahre nach ihrer Gründung und acht Jahre nach ihrem letzten Album zieht die unzeitgemäße britische Band noch in ihren Bann – Eine Retrospektive

 

Es ist das Wesen einer Flaschenpost, unbeeindruckt den Stürmen der Zeit zu trotzen und ihren Inhalt schließlich unversehrt und frisch oft erst nach Jahrzehnten wieder preiszugeben. Eine solche Flaschenpost aus der Musikgeschichte stellt auch das Werk jener britischen Band dar, die ab 2. September mit einer großen Tournee durch Europa und einem Gastspiel am 8. September in Wien ihr 40-jähriges Bestehen feiert: Supertramp. Mit über 60 Millionen verkauften Tonträgern zählt die Band bis heute zu den Giganten im Pop-Geschäft.

 

Dabei liegt die Hoch-Zeit der Formation um die beiden Leadsänger, Keyboarder und Komponisten Rick Davies und Roger Hodgson zweifellos in den 70er und frühen 80er Jahren. Bis heute zählt etwa ihr Album Crime of the century von 1974 zu den „must have’s“ in jeder Platten- oder CD-Sammlung – und auch hier trägt der Vergleich mit einer Flaschenpost, hält das Album im Blick auf die ausgewogenen Arrangements, die brillante Abmischung und die komplexen Kompositionen doch selbst nach 36 Jahren noch jedem Vergleich mit heutigen Produktionen stand.

 

Warum also ein Rückblick? Warum den Korken der Flaschenpost öffnen, wenn – wie bei Jubiläums-Tourneen üblich – nicht sprudelnde Innovationskraft, sondern vermutlich ein sauber arrangierter Best-Of-Auftritt zu erwarten ist? Warum auf solche „Rock-Opas“ verweisen, wenn derer mit Bob Dylan, Leonhard Cohen oder den unvermeidlichen Stones unzählige unablässig durch die Lande touren? – Nun, eben genau deshalb: weil Supertramp mehr verdient als ein bloßes geliehenes Ohr für die oft schon bis an die Enerviergrenze gespielten Hits wie Dreamer, Give a little bit, Breakfast in America oder I’ts raining again.

 

Es sind – wie ihr dem Buch „The Autobiography of a Super-Tramp“ von W.H. Davies entliehener Name schon sagt – musikalische Vagabunden, die sich mit aufwändigen Arrangements, ungewöhnlichen Harmonien und Instrumentierungen und stilistischen Anleihen aus dem Jazz bis heute deutlich aus dem Mainstream abheben. „Progressive Rock“ nannte man einst diese Stilrichtung, zu der auch Bands wie Jethro Tull, Alan Parsons und Pink Floyd, in jüngerer Zeit wohl auch Sting zählen. Intelligente Musik gegen den Dudelfunk, der heute aus den selbst ernannten Hitradios plätschert. Wer diese Bands hörte, signalisierte auch nach außen hin eine gewisse musikalische Intellektualität: Synkopen und Große Septimen anstelle müder Standard-Akkordfolgen im Viervierteltakt.

 

Ein kurzer Blick zurück auf den Anfang, der alles andere als glatt oder rund im Stile einer durchgecasteten und sterilen „boygroup“ verlief: Zwar wurde der gemeinsame Bandstart von Rick Davies und Roger Hodgson 1969 durch einen großzügigen holländischen Industriellen und Mäzen unterstützt und so erst künstlerische Freiheit und ein allererster Auftritt im Münchener PN-Club ermöglicht, doch kamen die ersten Alben der Band – 1970 das Album Supertramp und schließlich ein Jahr später das Album Indelibly Stamped über einen Achtungserfolg kaum hinaus. Die Band drohte zu zerfallen, der Investor sprang ab. Erst eine personelle Neuaufstellung mit Dougie Thomson (Bass), Bob Siebenberg (Schlagzeug) und dem kongenialen Saxophonisten John Helliwell sollte schließlich jene Konstellation zusammenkommen, die schließlich mit Crime of the century, dem Folgealbum Even in the quietest moments oder dem als „Album zur Krise“ in Feuilletons gegenwärtig wieder hervorgeholten Crisis? What Crises? über mehr als dreißig Jahre Bandgeschichte schrieb.

 

Es war also nicht alles Bloody well right – nicht alles verdammt gut und richtig, wie einer ihrer erfolgreichsten Titel lautete: So folgten zwar noch weitere erfolgreiche Alben – insbesondere Breakfast in America sollte sich über 20 Millionen Mal verkaufen und ihr Logical Song wurde mit dem prestigeträchtigen englischen Ivor Novello Award als beste Komposition ausgezeichnet. Dennoch sollte mit der Trennung von Davies und Hodgson im Jahr 1982 ein Bruch erfolgen, den seither weder Fans noch Musikkritiker der Band verziehen haben.

 

Wird bis heute über den eigentlichen Grund dieser Trennung spekuliert, so zeigt ein nüchterner Blick auf die beiden nach der Trennung veröffentlichten Studioalben Brother where you bound (1985) und Free as a Bird (1987) tatsächlich eine Band im künstlerischen freien Fall. Wo zuvor sorgsame Handarbeit und akribische Instrumentierung gerade den Reiz von Supertramp bildete, da regierten nun die in den späten 1980ern fast obligatorischen Synthi-Drums und ein Hang zum Pop-Schlager. Der Tiefpunkt folgte dann mit dem Live’88-Album, dem tatsächlich eine Schaffenspause von neun Jahren folgte.

 

Längst tot geglaubt, schaffte Rick Davis 1997 mit Some things never change die Kehrtwende und fand endlich einen eigenen Stil, der sich vom vormaligen eindeutig erkennbaren Bandklang unterschied. Kann man Hodgsons Solo-Projekten wie etwa seinem letzten Album Open the door aus dem Jahr 2000 bis heute anhören, wessen Feder und Spiel sie entstammen, so gab sich die Band nicht zuletzt durch eine personelle Neuaufstellung zugleich eine neue Note: Blues- und Jazz-Elemente wurden verstärkt, Gitarrist Carl Verheyen intensivierte den Gitarren-Part und Cliff Hugo sorgte für ein innovativeres Bass-Spiel – so auch auf dem bislang letzten, im Jahr 2002 erschienenen Album Slow Motion.

 

Typisch und bis heute erhalten hat sich die unaufgeregte Art der Band, ihre fast schon klinische Skandalfreiheit, bis hin zum musikalischen Erkennungszeichen, dem typischen, die meisten Hits bestimmenden E-Piano-Sound. Für Insider: der Klang eines Wurlitzer A-200. Geblieben ist ihr auch die Besonderheit des Live-Erlebnisses: Keine bombastische Bühnenshow versucht das Auge zu überwältigen, im Mittelpunkt bleibt die Musik – und damit der Blick auf das erstaunliche Maß an musikalisch-handwerklicher Perfektion, gelingt es Supertramp doch bis heute, einen den Studioalben kaum nachstehenden Live-Klang zu erzeugen. Auch hier scheiden sich freilich die Geister – gilt dies den einen als Zeichen hoher Kunst, ist es für andere die pure Langeweile.

 

Erhalten hat sich bei den Fans im Übrigen ebenso die Hoffnung, die Band könnte nach der Trennung von Hodgson und einer Zeit unruhigen Lavierens seither ihr 40-Jahr-Jubiläum wieder in alter Formation als „Reunion-Tour“ begehen. Doch selbst nach fünfzehn Monaten an intensiven Gesprächen habe man sich nicht zu einem solchen Schritt mit Hodgson einigen können, teilte die Band unlängst Anfang August auf ihrer Website mit, um allen Spekulationen endgültig ein Ende zu machen. “We wish Roger well and look forward to playing for you this fall”, schloss die Band das Kapitel.

 

So bleibt angesichts des 40. Jahrestages ihres Bestehens und der aktuell anstehenden Tour als Wunsch nur ein Rückgriff auf einen ihrer frühen Titel: If everyone was listening – wenn doch jeder – oder zumindest möglichst viele – zuhörten!

 

Erschienen in "Die Furche", ###


Foto: Henning Klingen
Foto: Henning Klingen

Unter Strom

 

Hubert von Goisern tourt derzeit mit seinem neuen Album „S’Nix“ durch Österreich und Deutschland – dabei präsentiert er zugleich die Früchte seiner ausgiebigen Schiffs-Tournee über die Donau

 

Leinen los. Anker lichten. Segel setzen. Auf zu neuen Ufern. Für Künstler wie für Journalisten ist eine Schiffsreise eine dankbare Angelegenheit. Künstlern eröffnet sie neue Perspektiven, sie hilft, Auge und Denken zu entschleunigen und sich auf die Musik zu konzentrieren. Journalisten eröffnet sie einen wahren Schatz an Metaphern – die manchmal sogar passen können. Und selten passen sie so gut, wie im Fall des Ausnahmemusikers Hubert von Goisern, der – kaum zurück von seiner Schiffstournee über die Donau – derzeit mit seinem neuen Album „S’Nix“ durch Österreich und Deutschland tourt.

 

Immer wieder hat er im Laufe seiner Karriere den Aufbruch zu neuen Ufern gewagt. Die Erfolgsgeschichte der „Alpinkatzen“ etwa brach er Mitte der 90er Jahre bewusst ab, um sich musikalisch von Afrika und Tibet inspirieren zu lassen. Aus beiden Reisen wurden Alben, die den hart gesottenen „Hiatamadl“-Fan mit offenem Munde zurückließen. 2001 folgte mit „Fön“ die Rückbesinnung auf puristischer arrangierte Jazz- und Bluesrhythmen. 2004 wechselte von Goisern mit „Iwasig“ erneut das Kielwasser, ließ wieder verstärkt Jodler einfließen und sich insbesondere durch eine neue Band mit einem herausragenden brasilianischen Bassisten inspirieren. Nach der Rückbesinnung auf seine musikalischen Wurzeln mit den beiden „Trad“-Alben hat von Goisern nun mit „S’nix“ abermals eine radikale Wendung vollzogen: jazzige Balladen wechseln mit fast schon klassischen Rock-Nummern. Vom Purismus der „Fön“ ist (S’)nix mehr zu spüren: breite, flächige Streicher, dominante E-Gitarren, ein extrem hart und auf den Punkt hin abgemischtes Schlagzeug.

 

Zugleich fährt von Goisern mit „S’Nix“ jedoch auch die Ernte der letzten zwei Jahre ein, in denen der Weltmusiker auf einer Schiffs-Tournee entlang der Donau schipperte. Zwischen Juni und September spielte er auf seiner Schiffsbühne 22 Konzerte in Österreich, Deutschland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine, Serbien und der Slowakei – den größten Teil davon kostenlos und mit Unterstützung jeweiliger einheimischer Musiker. In diesem Jahr ließ sich von Goisern treiben – und zwar stromabwärts bis nach Rotterdam. Auch auf dieser Tour spielte er wieder rund 30 Konzerte in Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz.

 

Rückenwind – finanziell wie medial – bekam von Goisern durch „Linz09“. Die Kulturhauptstadt ließ sich nicht lumpen und machte die Tournee kurzerhand zu ihrem völker- und kulturverbindenden Vorzeigeprojekt. Jan Figel wünschte dem Projekt Glück, Erhard Busek übernahm die Schirmherr, und schon brummte der schwere Schiffsdiesel los, um – wie es im offiziellen „Mission Statement“ großspurig heißt – über die Musik „einen europäischen Diskurs in Gang zu bringen, der uns den Kontinent erfahrbar macht“. Die Vorstellung eines vereinten, grenzenlosen Europas sei „viel zu schön, um es nicht zumindest zu probieren“, übersetzt das von Goisern.

 

Ein erstes Zwischenergebnis konnte am vergangenen Wochenende bei zwei Konzerten im Wiener Museumsquartier bestaunt werden. Dabei huben die Abende mit einer Warnung an: „Es könnte nicht das drin sein, was ihr vielleicht erwartet“, begrüßte von Goisern sein Publikum. Nebelschwaden zogen über die Bühne, zwei Rettungsringe an den Lautsprechern signalisierten, was auf die Zuhörer zukommen würde: eine Wildwasserfahrt auf neuen musikalischen Gewässern mit ungewissem Ausgang.

 

Die Band zeigte sich in exzellenter Spiellaune und nach den beiden Schiffstourneen bestens aufeinander abgestimmt. Für exotische Klangvielfalt sorgte die bulgarische Musikerin Darinka Tsekova mit ihrer Gadulka, einem Streichinstrument. Es dauerte eine Weile, bis sich das Publikum auf diese neuen und von Keyboarder David Lackner breitflächig untermalten Klangwelten eingestellt hatte. Doch spätestens mit den ersten Hoadern wie „Iawaramoi“ und „Mercedes Benz“ wurde der Bühnenvorraum zu einer wiegenden Masse, die erst nach drei intensiven Stunden musikalischer EU-Integration und der obligatorischen „Heast as nit“-Zugabe in die Wogen der Wiener Nacht entlassen wurde.

 

Es wird noch viel Wasser die Donau herunter fließen, bis man weiß, ob die musikalische Völkerverständigung auch gesellschaftliche Früchte trägt. Ein schöner Traum bleibt es zumindest – jedenfalls bis Mitte nächsten Jahres. Dann nämlich lädt von Goisern zu einem mehrtägigen Konzertfestival im Linzer Hafen mit allen Künstlern, die während der Tour an Bord gekommen sind.

 

Erschienen in "Die Furche", 7. November 2008