Beiträge zur Debatte um den "neuen Atheismus"


Spätestens mit dem Buch "Der Gotteswahn" von Richard Dawkins schwappte die Debatte über eine Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Subjekt im Kielwasser der Evolutionsbiologie von den USA auch nach Europa. Wo steht der Mensch im rauen Seegang "Zwischen Naturalismus und Religion"? lautet die Frage in Anlehnung an einen Buchtitel von Jürgen Habermas. Und noch konkreter gefasst: ist der "neue Atheismus" in Folge der jüngsten evolutionsbiologischen Erkenntnisse tatsächlich so neu bzw. greift er überhaupt?

 

Rund um dieses Thema habe ich in letzter Zeit einige Texte insbesondere für die österreichische Wochenzeitung "Die Furche" verfasst - darunter ein Essay bereits aus dem Jahr 2007, eine Rezension zu Daniel Dennett - einem Mitstreiter Dawkins' -, sowie ein vor ziemlich genau einem Jahr geführtes Streitgespräch zwischen dem österreichischen "Vorzeige-Atheisten" Niko Alm und dem in Manchester lehrenden Theologen Michael Hölzl.

 

Ich würde mich freuen, im angefügten Forum über die unten folgenden Texte mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.

 


Nichts als Leere

 

Unablässig umspülen die Wellen des angelsächsischen „neuen Atheismus“ mittlerweile auch die Feste Europas mit immer demselben Gedanken: Die wissenschaftliche Evidenz sagt, es gibt keinen Gott. Keine philosophische Attacke, der „Fels des Atheismus“ hat seine Zacken verloren. Ein Lob des „alten Atheismus“

 

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!’ Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. (…) Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?’ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?’“

 

Wohl kaum ein Text über den Atheismus hat Philosophen wie Theologen in den letzten 100 Jahren so sehr herausgefordert wie jener berühmte Aphorismus Friedrich Nietzsches’ über den „tollen Menschen“. Auch heute marschieren sie wieder, die Laternenträger – doch längst haben sie die Suche nach Gott aufgegeben, längst sind sie über alle Zweifel ihrer Tat erhaben. Erleuchtet sind sie tatsächlich, die „Brights“, die Künder des „neuen Atheismus“, die sich seit einigen Jahren hinter ihren Galionsfiguren Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Daniel Dennett versammeln. Ihre Fackel ist die Fackel der naturwissenschaftlichen Vernunft, ihr Gott der evolutive Prozess, ihr Fetisch der Naturalismus.

 

Gott als Arbeitshypothese ist für sie überflüssig geworden – so lautet ihre Botschaft, die sie in Pamphleten wie dem jüngsten Dawkins-Reißer „Die Schöpfungslüge“ oder Stephen Hawkings „Großer Entwurf“ verkünden. Der Blick in die Bestsellerlisten auch hierzulande zeigt: Atheismus ist wieder ein Thema – und er spült zugleich die letzten Reste jener fröhlichen Religiosität weg, die zuvor so schillernde PR-Perlen wie den „Megatrend Spiritualität“ oder die viel besungene „Wiederkehr der Religion“ hervorgebracht hatte.

 

Doch was macht den Reiz dieses „neuen Atheismus“ aus? Vor allem ist es seine Voraussetzungslosigkeit. Man muss sich nicht mehr in der Geistesgeschichte auskennen, geschweige denn in der Bibel – im Übrigen aber auch nicht in den Naturwissenschaften. Ob Evolution, Urknall oder kirchliche Sündenregister – es gibt nichts, was Dawkins und Co. nicht in leicht verdaulichen Happen servieren. Außerdem liefern die „Brights“ ein eindeutiges Weltbild in Zeiten der Unsicherheit: Spätestens der 11. September 2001 hat die hässliche, gewalttätige Fratze der Religion – und dabei speziell des Monotheismus – neu zum Vorschein gebracht. Gott, das ist jene unberechenbare Kraft, die Menschen dazu bringt, sich im Dienste einer höheren Wahrheit in die Luft zu sprengen. Weg damit.

 

Man muss es allerdings offen sagen: Dem spätmodernen Menschen ist der Atheismus näher als der Theismus. Für ihn steht der „Leere Stuhl des Messias“ (A. Heller) in der Regel nicht mehr im Zentrum, er spürt oftmals nicht einmal mehr den Schmerz des Vermissens dieses leeren Stuhls. Das räumt im Übrigen selbst Benedikt XVI. ein, wenn er in seinem jüngsten Interview-Band konstatiert: „Für viele ist der praktische Atheismus heute die normale Lebensregel.“ Kein Gottvermissen mehr, schon gar keine Gottesvergiftung – höchstens noch ein stückweit kollektive Melancholie darüber, dass man nicht einmal mehr weiß, was man eigentlich vermisst.

 

Was waren das dagegen für glückselige Zeiten, als Atheismus noch eine theologische Herausforderung war. Als Atheisten in der Frage nach dem ungerechten Leiden noch wie ein Schwert schwangen und darin mit Büchner den „Fels des Atheismus“ sahen. Als agnostisch gestimmte Geister dem biblischen Erbe zu neuen Ehren in der Philosophie verhalfen, indem sie ihm ein Gespür für das Unabgegoltene in der Geschichte zuerkannten.

 

Alles aus und vorbei. Kehrtwende in den Diskursen, Naturalismus ist angesagt, Reduktion des Lebens auf seine biologistischen Grundvollzüge. Das Ich in seiner ganzen Komplexität wird dabei ebenso verabschiedet wie der Glaube. Religion – nicht mehr als ein Trick der Evolution, um mit dem elenden Leben besser zu Recht zu kommen. Das haben wir nicht erst Dawkins zu verdanken, er hat es jedoch geschafft, sich durch den geschickten Vermarktungskreuzzug seiner Thesen an die Spitze einer ganzen Bewegung zu setzen – oder diese erst zu initiieren.

 

Gewiss, das Theoriegebäude der „neuen Atheisten“ ist brüchig. So kann man einen rein funktionalen Religionsbegriff konstatieren und sich über die geradezu unwissenschaftliche Selbstgewissheit nur amüsieren. Aber man muss ernsthaft rückfragen: Kann man den Menschen tatsächlich einfach so auf Chemie im Kopf reduzieren, auf eine Vorspiegelung im limbischen System? Sieht so Aufklärung aus? Nimmt man ihm dabei nicht – ganz nebenbei – noch die Verantwortung für sein Tun ein stückweit aus der Hand? Wie gehen sie um mit der metaphysischen Resignation der Menschen, die sich subjektmüde und sehnsuchtsfrei in ihr wunschloses Unglück ergeben? Was haben sie zu bieten an symbolischer Ordnung? Die traurige Wahrheit: Dawkins und Co. sehen darin „kein Problem, denn Böses und Leiden kommen in den Berechnungen zum Überleben der Gene nicht vor“. Biologie kennt keine Rücksichten.

 

Nietzsche focht noch einen Kampf gegen die „Sklavenmoral“ des Christentums, Gott war ihm der Tod des freien Gedankens, Religion bloße Repression. Auf dieser Ebene jedoch wollen die Brights – nichts. Sie zielen auf keine neue Moral, auf keinen Entwurf. Aber natürlich haben sie eine Mission – und diese ist durch und durch politisch. Denn Religion ist gerade in den USA weder Privatsache noch marginalisiert – sie ist Wirtschaftsmacht und Politikum, wie zuletzt der Einfluss evangelikaler Kräfte bei den „Midterm-Wahlen“ auf die „Tea party“-Bewegung deutlich gemacht hat. Sie ist ein Player der Zivilgesellschaft mit klaren bildungspolitischen Avancen, gestützt von einem dichten Netz religiöser Stiftungen, privater TV-Kanäle und Verlage – und dies mit Erfolg, wie Umfragen immer wieder bestätigen, zeigen sich doch über 90 Prozent der Amerikaner von der Existenz Gottes überzeugt, gut die Hälfte geht davon aus, dass die Erde vor rund 6000 Jahren entstanden ist. Wen wundert’s da, dass Dawkins über sein jüngstes Buch zur „Schöpfungslüge“ schreibt, „Dieses Buch ist notwendig.“

 

Was bleibt also vom „neuen Atheismus“? Auf der einen Seite seine politische Mission, die mitunter gar eine Berechtigung hat. Auf der anderen Seite – Leere und mit ihr erneut Nietzsche. Denn über ihn und seine Verzweiflung kommen auch die Brights nicht hinweg, wenn er fragt: „Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ Aber es gibt noch ein anderes, erschreckendes Ende der Geschichte. Auch dieses findet sich bei Nietzsche. Es ist die zarathustrische Vision vom „Übermenschen“, die Idee des Eingriffs in den aus jeglichem Moralkorsett und Sinnzusammenhang herausgelösten Menschen. Es war nicht zuletzt Peter Sloterdijks Adaption dieses Impulses in seinem Text „Regeln für den Menschenpark“, der bei Habermas dazu führte, eine Lanze für den biblischen Gott zu brechen. Denn Habermas hatte erkannt: wo zumindest die Idee eines Schöpfers noch existiert, wo der leere Stuhl Gottes weiterhin im Raum steht, dort ist er die letzte Bastion, die noch die Kreatürlichkeit des Menschen verteidigt.

 

Erschienen in "Die Furche", 23. Dezember 2010

 



„Religion ist keine harmlose Sache“

 

Der Theologe Michael Hölzl und der Atheist Niko Alm im "Furche"-Streitgespräch über Religion im öffentlichen Raum, Religionsunterricht, gute und schlechte Theologie und Religion als Wertespender

 

F: Furche / H: Michael Hölzl / A: Niko Alm

 

F: Herr Hölzl, Sie forschen u.a. zur „neuen Sichtbarkeit“ von Religion. Helfen Sie uns auf die Sprünge: Erleben wir aktuell eine Wiederkehr der Religion oder eine Wiederkehr des Atheismus?

 

H: Dass Religion wieder ein öffentliches Thema ist, sieht jeder, der die Zeitung aufschlägt. Ich unterscheide da aber jene, die daraus schließen, dass Religion in ihrer bisherigen Form tatsächlich wieder erstarkt. Auf der anderen Seite gibt es jene, die sagen, Religion ist zurückgekehrt, aber sie hat sich stark verändert.

 

F: Was genau hat sich verändert?

 

H: Vor allem der Institutionenbegriff. Früher war man z.B. Parteimitglied, heute macht man auf Facebook spontan Solidaritätsbekundungen. Es ist spontaner, flexibler, flüssiger geworden und weniger starr. Das gilt auch für die Religion. Sie taucht in einer neuen, aber veränderten Form auf. Die Säkularisierung war da ein Motor, der Religion nicht ausgelöscht, sondern verändert hat.

 

F: Herr Alm, Sie sind Sprecher der „Laizismus-Initiative“ und zugleich bekennender Atheist. Worum geht es in Ihrer Kampagne – um Atheismus oder Laizismus?

 

A: Unser Gegner ist der Staat, nicht der Gläubige, insofern geht alles, was wir tun, auch ohne Atheismus. Wir kämpfen für die Gleichstellung. Wir haben ja in Österreich immer noch keine ordentliche Trennung von Staat und Kirche. Es gibt 14 staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften, und diese verfügen über gewisse Privilegien – zum Nachteil jener, die keiner Religion angehören.

 

F: Diese hinkende Trennung von Staat und Kirche hat ja eine historische Wurzel, man dankt damit den Kirchen und Religionsgemeinschaften auch etwas.

 

A: Aber sie ist nicht mehr relevant und daher möchte ich sie kappen. Nur weil etwas schon lange besteht, heißt es nicht, dass es richtig ist.

 

H: Was heißt das konkret? Zielen Sie auf eine Verfassungsänderung ab, oder geht es um eine Art Kulturrevolution?

 

A: Ein Revolutionär bin ich sicher nicht. Revolution ist nie gut, Evolution ist mir lieber. Wir verfolgen ein langfristiges Ziel, am Ende wollen wir eine neue rechtliche Situation – und dazu müssen wir dann auch über die Verfassung reden. Mit der Buskampagne wollten wir z.B. ausloten, wie weit man in der Öffentlichkeit in Österreich gehen kann. Und wir haben gesehen: es haben sich kaum Menschen darüber aufgeregt – anders als es das mediale Echo suggeriert hat.

 

H: Der Skandal wäre größer gewesen, wenn Sie die Staatsoper zugesperrt hätten…

 

A: Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass eine Ungleichheit besteht. Ein zweiter Schritt wäre nun, dass sich die Leute als Konfessionslose „outen“. Immerhin machen wir 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in Österreich aus.

 

H: Aber halten wir die Dinge doch auseinander. Auf der einen Seite geht es um Kritik an der Institution Kirche und das vertraglich im Konkordat geregelte Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Das kann als unfair betrachten und als Benachteiligung für andere Gruppen. Aber das hat ja mit Atheismus absolut nichts zu tun.

 

A: An der Wurzel schon, da aus dem Gottesglauben ein ganzes kirchliches Rechtssystem abgeleitet wurde, das innerhalb eines staatlichen Rechtssystems steht. Diese treten aber in Konkurrenz zueinander und es ist die Pflicht des Staates, das andere System in seine Schranken zu weisen.

 

F: Ein klassisches Argument des Atheismus ist der Verweis auf das Gewaltpotenzial, das in Religion steckt.

 

A: Soweit würde ich gar nicht gehen. Ich würde aber sagen, dass Gewalt eine Folge der Teilung der Menschen ist, an der Religion allerdings teilhat. Das sieht man ja schon im Religionsunterricht, wo Kinder separiert werden. Daher sind wir auch gegen einen konfessionellen und für einen konfessionsübergreifenden Unterricht für Kinder bis 14, z.B. als „Religionen- und Ethik-Unterricht“. Dann können sich die Kinder immer noch entscheiden, ob sie konfessionellen Religionsunterricht wollen oder nicht.

 

H: Ich glaube, da gibt es einen Fehler in Ihrem Vorschlag. Es führt zu nichts, wenn ich etwa meine Tochter jetzt nicht taufen lasse oder in den Religionsunterricht schicke, sondern sie erst später frage, welche Religion sie gerne hätte. Natürlich bleibt diese Entscheidung durch uns Eltern eine Art Gewaltakt. Aber gerade im Prozess des Erwachsenwerdens kann sich das Kind dann wenigstens bewusst gegen etwas stellen.

 

A: Ich glaube, sie überinterpretieren die Kampagne. Sie richtet sich gegen den Staat, dessen Aufgabe es wirklich nicht ist, religiöse Erziehung in Schulen angedeihen zu lassen.

 

H: Sehen sie einen Staat, der diese Frage vorbildlich löst?

 

A: Ich denke, Großbritannien macht das gut. Gibt es da nicht einen überkonfessionellen Unterricht?

 

H: Ja, den gibt es. Aber es gibt auch eine Staatskirche mit bestimmten Privilegien. England ist ein interessantes Beispiel, weil es den fortgeschrittensten Multikulturalismus bietet, was aus der Commonwealth-Geschichte resultiert. Allerdings hat nach den Terrorattacken von 2007 eine intensive Debatte über dieses Modell begonnen. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen um die Forderung nach einem besseren Unterricht und „bessere Theologie“?

 

A: Ja, denn ein Kritikpunkt der Eltern, die ihre Kinder religionsfrei erziehen wollen, lautet dass ihren Kindern dadurch vieles an religiösem Faktenwissen fehlt, weil das weder im Geschichtsunterricht, noch sonst irgendwo vermittelt wird. Das kann aber nicht die Lösung sein, dass wir die alle in den konfessionellen Religionsunterricht stecken. Deswegen die Forderung nach Ethik- und Religionsunterricht – aber eben nicht in einer indoktrinierenden Art und Weise.

 

H: Theoretisch hat dieser Gedanke etwas für sich, vermutlich wird es sich praktisch spießen. Und zwar weil Religionen einen Absolutheitsanspruch stellen. Religion setzt existenziell an, da gibt es keine Wahl.

 

A: Danke für diesen Einwurf. Ich sehe das genauso, dass es daran scheitern wird. Daher auch mein Hinweis: Wenn dieser Absolutheitsanspruch unhinterfragt gestellt wird, dann ist er in der Schule fehl am Platz.

 

H: Dennoch möchte ich darauf beharren, dass Religionsunterricht an öffentlichen Schulen aufrecht bleibt – denn gefährlich wird Religion dann, wenn man sie zur Unsichtbarkeit verdammt oder etwa in Sonntagsschulen privatisiert.

 

F: Außerdem wird Religionsunterricht in der Schule ja auch staatlich kontrolliert.

 

A: Theoretisch ja, praktisch aber nicht.

 

H: Wenn Sie ganz konsequent wären, müssten sie eigentlich dafür sein, alle religiösen Symbole – angefangen beim Stephansdom – aus der Öffentlichkeit zu verbannen.

 

A: Nein, das will niemand. Das ist eine bösartige Unterstellung. Keiner will Kirchen niederbrennen. Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass das Recht auf freie Religionsausübung eingeschränkt werden sollte. Und ich halt auch das Glockengebimmel aus, das sind Kleinigkeiten. Ich respektiere auch die große religiöse Tradition, aber das ganze sollte insofern privat sein, als öffentliche Institutionen da herausgenommen sind.

 

F: Um an dieser Stelle kurz einzuhaken: Was einen Richard Dawkins besonders erregt, ist die Situation in den USA, wo Sie genau dies haben: eine prinzipiell ins Private gedrängte Religiosität, die aber – mit privaten Mitteln üppig ausgestattet – aus dem privaten Raum heraus starken Einfluss auf Politik nimmt. Ist da nicht österreichische kooperative Verhältnis von Staat und Kirche sehr viel transparenter und besser zu kontrollieren?

 

A: Was die USA als Trennung von Kirche und Staat betreiben, ist kontraproduktiv in genau der beschriebenen Art und Weise. Und gegen das kooperative Modell ist ja auch gar nichts zu sagen. Aber Kooperation und Privilegien sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Einmal hat ein bekannter Katholik zu mir gesagt: wir brauchen gar keinen politischen Einfluss, wir als katholische Politiker wissen eh, wie wir zu handeln haben. Der Ansatz müsste doch genügen aus der Perspektive der Kirche.

 

F: Greifen wir noch einmal das existentielle Moment von Religion auf. Wenn Sie von sich sagen, einen durchaus interessanten Religionsunterricht genossen zu haben, fragt man sich doch, ob es einen „biografischen Knacks“ gegeben hat…

 

A: Die Frage wird oft gestellt. Tatsächlich ist gar nichts passiert. Ich habe nie wirklich geglaubt, weder an Kreation noch an Intervention, schon als Kind nicht. Das hat mich nie weiter gestört, daher bin ich dann auch aus der Kirche ausgetreten. Gewachsen ist aber eine Unzufriedenheit, denn ich habe gesehen, dass diese Institution so viel Einfluss in unserem Land hat. Und dass sie eine Sonderstellung genießt, die mir zuwider ist.

 

F: Wie gehen Sie dann mit jenen existentiellen Situationen etwa von Leidenserfahrungen um, die für viele Menschen eine religiöse Dimension bedeuten?

 

A: Ich habe das das Glück, dass ich noch nicht in der Situation war, aber ich würde sagen, es gibt genauso auch humanistische Institutionen, die einem in diesen Situationen Hilfe bieten können. Ich habe ein naturalistisches Weltbild, und da sehe ich Glauben nicht als Lösung des Leidensproblems. Aber ich verstehe auch, wenn Menschen da religiös reagieren. Leute glauben ja auch an Homöopathie; dennoch wirkt das Zeug nicht.

 

H: Das existentielle Moment des Glaubens tritt für mich vor allem in Form radikaler Anfechtung in Erscheinung. Das ist übrigens ein starker Traditionsstrang, der die großen Mystiker und Heiligen ebenso betraf wie etwa Mutter Teresa. Sie alle kannten Erfahrungen der Bestreitung. Die ganze Tradition der Religionskritik von Feuerbach an hat daher seine Berechtigung. Denn sie zeigt: man muss durch diese Kritik hindurchgehen, dann kommt man zu einem geläuterten Begriff – und das meine ich mit „besserer Theologie“.

 

A: Aber wie steht es etwa um den Islam? Gibt es da Platz für Religionskritik und Zweifel?

 

H: Ja, muss man nur den Mystiker Rumi lesen. Der Islam wird bei uns immer so interpretiert, als wäre er monolithisch, ist er aber überhaupt nicht.

 

A: Aber schlägt sich das irgendwo in der Praxis nieder?

 

H: Natürlich, das Problem ist nur, dass wir medial vermittelt eher die Probleme sehen – aber diese repräsentieren nicht die Majorität. Wenn das negative Bild tatsächlich stimmen würde, würde unser Zusammenleben ja gar nicht mehr funktionieren.

 

A: Aber trotzdem gibt es anscheinend im Islam keinen Mechanismus, der die Gewalt hintan halten kann.

 

H: Gab es im Christentum einen Mechanismus, der die Kreuzzüge hintan halten konnte?

 

A: Mittlerweile glaube ich nicht, dass es das noch geben könnte.

 

H: Warum? Weil die Religion mittlerweile zu unbedeutend geworden ist? Weil wir sie nicht mehr ernst nehmen? Oder schärfer gefragt: Warum gibt es im Christentum und Judentum keine Selbstmordattentäter?

 

A: Vielleicht gibt es keine entsprechenden Verheißungen, dass im Paradies etwas auf Christen wartet…

 

H: Das ist jetzt aber eine arge Stereotype über den Islam. Nein, Religion hat tatsächlich das Potential, benutzt zu werden, um Leute zu indoktrinieren. Deswegen ist Religion keine harmlose Sache und ich glaube, das gilt für alle Religionen. Als Gegenmittel würde ich da sagen, dass die beste Waffe gegen Radikalisierung nicht weniger Religion sondern bessere Theologie ist.

 

Erschienen in "Die Furche" am 23. Dezember 2010

 



Fotoausschnitt: Wikipedia
Fotoausschnitt: Wikipedia

Als wenn es keinen Gott gäbe…

 

Ist unsere moderne Welt religionsfeindlich oder religionsfreundlich? Die Ausweitung der Kampfzone hat längst auch die Religion erfasst, die Rede vom „aggressiven Säkularismus“ wird immer mehr zum Kampfbegriff und droht, die redliche Diskussion über Säkularisierung zu überlagern

 

Wie oft mag sich der deutsche Rechtsphilosoph und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde schon gewünscht haben, diesen Satz niemals geschrieben zu haben! „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Durch diesen einen Satz, nachzulesen in seinem Werk „Staat, Gesellschaft, Freiheit“ von 1976, avancierte Böckenförde – ungewollt und ungerechtfertigt – zum Liebling des religiösen Feuilletons und zugleich zum Gewährsmann jener, die aller Marginalisierung zum Trotz einen religiösen dritten Frühling wittern. Ein religiös ausgemergelter Rechtsstaat, so das Argument, trage einen gefährlichen dialektischen Kern in sich, wo er jene Institutionen – gemeint natürlich vor allem die christlichen Kirchen – ausbluten lässt, die Empathie, Solidarität und Nächstenliebe, kurz: die Grundlagen unseres Zusammenlebens regenerieren.

 

Im vergangenen Jahr platzte Böckenförde offenbar der Kragen. Gemeinsinn und Ethos seien zwar tatsächlich jene Momente, die es vor der Säkularisierung zu schützen gelte, die Frage nach den Quellen führe aber nicht unumwunden zu den Futtertrögen der etablierten Religionsgemeinschaften. „Gelebte Kultur“ sei ein eben solcher Ethos-Stifter, auch in „Aufklärung und Humanismus“ ließen sich Quellen des Gemeinsinns ausmachen, „aber nicht automatisch bei jeder Religion“.

 

Das Beispiel zeigt zweierlei: zum einen, dass die Diskussion um die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft erneut auf der Tagesordnung steht; zum anderen, dass diese Diskussion sich mittlerweile selbst gewissermaßen säkularisiert hat: sie ist aus den Hörsälen und Diskurscafes der Universitäten ausgewandert in die politischen und zivilgesellschaftlichen Vorfeldorganisationen, wo sie sich zu einem kämpferisch anti-modernen Programm gemausert hat. Auffälligstes Zeichen dieser Bewegung ist eine kleine, aber entscheidende begriffliche Verschiebung: So ist derzeit in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr von Säkularisierung die Rede, sondern von „Säkularismus“. Mehr noch, sprechen Politiker und Kirchenvertreter doch gar von einem „aggressiven Säkularismus“, der gerade in den westlichen Ländern, auch in Europa, um sich greife.

 

Dabei scheint sie nicht zu irritieren, dass das Adjektiv „aggressiv“ personale Entscheidungen, nicht jedoch a-personale strukturelle Weichenstellungen beschreibt, in denen jedoch Säkularisierungsprozesse ablaufen. Ungeklärt bleibt auch der Unterschied zum „Neuen Atheismus“, der tatsächlich – da durch einzelne Leitfiguren wie R. Dawkins vermittelt – Formen der Aggressivität annehmen kann. Aber kennen Sie „aggressive Säkularisierer“? Die Unbestimmtheit zwischen hohler Phrase und unheil-ahnendem Raunen machen letztlich den Reiz aus. Doch wo die Säkularisierung zum „ismus“ wird, lauert die ideologische Entstellung.

 

Gewiss, Säkularisierung hat ein dialektisches Potential. Sie kann denaturieren, etwa indem sie stumm bleibt gegenüber Gewalt, indem sie Egalität mit Gleichgültigkeit verwechselt, indem sie den sensus wenn schon nicht für das Heilige, so doch zumindest für Grenzüberschreitungen verliert. Wer jedoch vom aggressiven Säkularismus spricht, ist nicht an Differenzierungen interessiert – es geht um einen Gegenangriff. Geradezu entfesselt scheinen entsprechend jene katholischen Kräfte, die die Welt vor dem Abgrund sehen, moralisch ausgelaugt, vom Pluralismus zerrüttet, gleichgültig gegen das Heilige, gegen Werte und Traditionen. Angefeuert durch die Medien, die ihren Schlachtruf verstärken, ziehen sie ins entscheidende Gefecht – die „Re-Evangelisierung“.

 

Der jüngste Coup der katholischen Wut-Bürger ist zugleich der bedenklichste: so nehmen sie – angestachelt durch die Berichte über die zweifellos tragischen Attentate auf koptische Christen in Ägypten, über Vertreibungen im Irak oder ihre Marginalisierung in arabischen Ländern – immer häufiger das Wort von der „Christenverfolgung“ in den Mund – und öffnen damit zugleich die Büchse der Pandora. Denn wer nach sozialen Hintergründen der Gewaltexzesse fragt oder Differenzierung verlangt, wer die Zahlenspiele zwischen 200 und 300 Millionen verfolgten Christen anzweifelt, steht rasch im Geruch, den Opfern notwendige Solidarität vorzuenthalten.

 

So zeigt sich, dass die Schlachtrufe nicht nur Kampfparolen in Richtung einer subtilen staatlicher Diskriminierung religiöser Menschen sind, sie richten sich vielmehr auch als Kampfansage an die eigenen Brüder im Glauben: denn sie spalten, statt zu versöhnen, indem sie die Bedenkenträger, die Zweifler, die verhassten „linken Theologen“ und die wenigen religiösen Verteidiger der Säkularisierung verächtlich einer unangemessenen „political correctness“ zeihen oder aber – noch beliebter, weil päpstlich gedeckt – sie des theologischen Relativismus bezichtigen.

 

Der bittere Samen geht indes auch in Europa auf, wo zuletzt das „Observatory on Intolerance and Discrimination against Christians“ mit seinem „Shadow Report“ einen Bericht vorlegte, der auch in Europa tätliche Attacken gegen Geistliche, religiöse Veranstaltungen, Kirchen oder Friedhöfe ahndet, aber auch die Entfernung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum als Zeichen wachsender Intoleranz gegen Christen sieht. Und prompt findet sich auch dort das Signalwort vom „radikalen Säkularismus“, der neben einer „übertriebenen Political Correctness“ der Christen Grund für ihre Diskriminierung sei.

 

Die Bastion, die es zu stürmen gilt, ist schnell ausgemacht: so appelliert der Bericht an die EU-Grundrechteagentur, die Themen Religionsfreiheit, Redefreiheit und Gewissensfreiheit „zu Prioritäten ihrer Arbeit“ zu machen und eine Sammelstelle für Akte der Christenverfolgung einzurichten. Selbst die große europäische Bühne ist vor den „ismen“ also nicht mehr gefeit. So mahnte unlängst der ehemalige britische Premier Tony Blair zur Zusammenarbeit der religiösen Führer, um der Gefahr des religiösen Extremismus und – richtig erraten – einem aggressiven Säkularismus zu begegnen.

 

Und der Vatikan? Der duldet dieses Spektakel nicht nur, er befeuert es noch als Stichwortgeber. So führt selbst Papst Benedikt XVI. – etwa bei seinem Großbritannien-Besuch – die Rede vom „aggressiven Säkularismus“ im Mund. Und in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner unterstrich er entsprechend, dass die großen Feinde der Religionsfreiheit der religiöse Fundamentalismus und der Säkularismus westlicher Provenienz seien. Ins selbe Horn blasen auch engste Mitarbeiter wie Erzbischof Rino Fisichella, Präsident des neu geschaffenen Rates für die Neuevangelisierung, der vor einer wachsenden „Christianophobie“ in Europa warnt.

 

Gewiss, die Schubumkehrer haben einen großen Vorteil: sie können sich auf die moderne religionssoziologische Einsicht berufen, dass die klassische Säkularisierungsthese nicht mehr funktioniert. Galt es lange Zeit als ausgemacht, dass Religion als Amalgam von Tradition, Institution und Mythos die gesellschaftliche Modernisierung hemme und also ein Auslaufmodell sei, so hat sich in den vergangenen zehn Jahren – befeuert vor allem durch die Großen der Philosophie, Jürgen Habermas und Charles Taylor – die Diskussion verlagert. So schleuste Habermas im Jahr 2001 den schillernden Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ in die Debatte ein, Taylor forderte noch im Vorjahr, man müsse Säkularisierung „neu denken“ insofern Menschen heute durchaus in der Lage seien, säkular und religiös zugleich zu sein.

 

Sollte tatsächlich die Rede von der „Wiederkehr der Religion“ philosophisch geadelt werden? Es lohnt der Blick auf das Kleingedruckte: so entgegnete Habermas bereits mehrfach, dass „postsäkular“ gerade keinen Abgesang auf die säkulare Gesellschaft bedeute, sondern vielmehr die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von religiösen und säkularen Elementen durch die Modernisierungsprozesse hindurch. Der Kniefall vor dem Numinosen bleibt aus, denn selbst in einer postsäkularen Gesellschaft bleibe das „nachmetaphysische Denken säkular“, d.h. es kommt selbst durch starke religiöse Ambitionen der Lebenswelt zu keiner Umkehr etwa in den staatlichen Entscheidungsprozessen.

 

Welche Haltung entspricht also dem säkular-religiösen Menschen? Einen Tag vor dem Tod Johannes Pauls II., am 1. April 2005, hielt Kardinal Josef Ratzinger einen Vortrag über die kulturelle Krise Europas. Darin wendet er sich am Ende mit einem „Vorschlag an die Säkularisten“. Durch Maßlosigkeit und eine in ihrer ganzen Dialektik nicht durchtauchten Aufklärung sei der Mensch, der sich von Gott losgesagt hat, an die Grenzen des Erträglichen gegangen. Daher seine Aufforderung an die säkularen Zeitgenossen: Lebt doch „etsi deus daretur“ – als wenn es Gott gäbe! Ein Taschenspielertrick, der – mit Verlaub gesagt – säkulare Quellen von Moral und Kultur, auf die Böckenförde hinweist, nicht ernst nimmt und wohl kaum Gehör findet.

 

Warum nicht den gegenteiligen Weg einschlagen und leben „etsi deus non daretur“ – als wenn es keinen Gott gäbe? Für Christen bedeutet dies, die Säkularisierung endlich als demokratische Produktivkraft ernst zu nehmen, nicht aus ihren Pflugscharen wieder Schwerter zu schmieden und mit antireformatorischem Eifer gegen aggressive Säkularisten zu Felde zu ziehen. Für säkulare Zeitgenossen hingegen ist ein Leben „als wenn es keinen Gott gäbe“ eine Alltagserfahrung – aber vielleicht zugleich auch der augenzwinkernde Ruf, der geheimnisvollen Tiefe des Konjunktivs zu folgen – jenem Rockzipfel des Göttlichen, der die Erde streift, um sogleich wieder – noch bevor er begriffen wird – um die Ecke zu verschwinden.

 

Kurz gesagt: Zu leben, „etsi deus non daretur“ entspräche der modernen Geisteshaltung eines nachmetaphysischen und zugleich postsäkularen Zeitgenossen, der zumindest im Gestus des Vermissens noch um die Leerstelle weiß, die jene Kraft, die wir als Gott zu bezeichnen pflegen, ausgefüllt hat.

 

Erschienen in: Die Furche, April 2011


Cover: Ullstein-Verlag
Cover: Ullstein-Verlag

Geplänkel um den „Gotteswahn“


Über Jahre hinweg galten die USA als Musterland einer gelingenden Symbiose von Öffentlichkeit, Religion und Politik. Unter dem Schlagwort eines „neuen Atheismus“ formiert sich nun Widerstand. Europa schaut fasziniert zu, braucht die Debatte jedoch nicht zu fürchten – es hat größere Sorgen

 

„Der Atheismus“, so schrieb der Philosoph Ludwig Feuerbach 1843, „ist der umgekehrte Pantheismus“. Der Pantheismus jedoch, so Feuerbach weiter, ist „die Negation der Theologie auf dem Standpunkt der Theologie“. So unverständlich philosophische Klassiker auf den ersten Blick oft daherkommen mögen, so treffend sind doch – selbst im Zeitalter unverhohlener Geringschätzung der Geisteswissenschaften – mitunter bis heute ihre Diagnosen. Zumindest im Blick auf die USA; denn was sich in den dortigen Feuilletons seit einigen Jahren unter dem Schlagwort der „Evolution wars“ (‚Evolutions-Kriege’) als Kampf zwischen einem überwiegend religiös imprägnierten und einem bekennend-atheistischen Bevölkerungsteil abspielt, kann in seiner Vehemenz und ungehemmten Aggressivität durchaus mit den ideologischen Grabenkämpfen des 19. Jahrhunderts verglichen werden, in die sich Feuerbach mit dem obigen Zitat einmischte.

 

Es bedarf dabei nur einer kleinen begrifflichen Verschiebung, um das Zitat für die heutige Debatte zwischen den „Evolutionskriegern“ anschlussfähig und für eine theologische Ortsbestimmung aus europäischer Sicht fruchtbar zu machen. Versteht man nämlich unter ‚Pantheismus’ eine Form unbestimmter Naturreligiosität, die in der staunenden Betrachtung der Komplexität der Welt einen Hinweis auf den göttlichen Schöpfer erkennt (was zugegebenermaßen eine begriffliche Verkürzung darstellt), so drängt sich eine modernisierte und zugleich provokante Lesart des Feuerbach-Zitats auf, die eine durchaus auf den amerikanischen Diskurs passende Anfrage formuliert: Was ist nämlich die Lehre der US-amerikanischen „Kreationisten“ und „Intelligent Design (ID)“-Verfechter anderes, als eine in Wissenschaftssprache gekleidete Form eben dieses Pantheismus’, als der verklausulierte Ausdruck eben jenes naturreligiösen Staunens vor der Komplexität der Welt? Und was ist diese reanimierte Form der Naturreligiosität anderes, als die „Negation der Theologie auf dem Standpunkt der Theologie“, also als eine sich theologisch gebärdende Absage an die Verknüpfungen von Glauben und Vernunft, von „fides“ und „ratio“, wie sie u.a. von Papst Benedikt XVI. immer wieder so vehement reklamiert wird?

 

Aus Europa verfolgt man die amerikanische Debatte teils mit Amüsement, teils mit der Sorge, dass der von beiden Seiten geschürte, feuilletonistische Flächenbrand auch auf Europa überspringen könnte. Dass diese Sorge unberechtigt ist, da die Debatte am Kern der europäischen Krisensituation vorbeigeht, soll im Folgenden anhand eines Blicks auf die sozio-religiöse Landkarte der USA und die Bedingungen ihres Entstehens ebenso aufgezeigt werden, wie durch einen Blick in das jüngste Werk des streitbaren Wortführers des „neuen Atheismus“, das seit Herbst auf allen Bestsellerlisten weit oben angesiedelte Buch des Evolutionsbiologen Richard Dawkins, „The God Delusion“ (‚Der Gotteswahn’).

 

Hinsichtlich der sozio-religiösen Landkarte der USA weisen mittlerweile zahlreiche Intellektuelle, darunter so bekannte Stimmen wie der deutsche Soziologe Hans Joas oder der amerikanische Philosoph José Casanova, darauf hin, dass es eine gravierende religiöse Ungleichzeitigkeit zwischen der US-amerikanischen Variante gesellschaftlicher Modernisierung und jener in Europa gibt. War die europäische Aufklärung nämlich getrieben von a-religiösen und a-theistischen Kräften, von leidenschaftlichen Gegnern einer wahrhaft ‚katholischen’, weil alle Lebensbereiche umfassenden Kirche und beförderte sie so einen Säkularisierungsprozess, der bis heute zu einer weitgehenden Marginalisierung der öffentlichen Bedeutung von Religion und zu einer Privatisierung alles Religiösen geführt hat, so kennt die amerikanische Sozialgeschichte diese Kämpfe – bislang – nicht. Im Gegenteil, verweist doch das Zentrum des amerikanischen Freiheitsmythos’ in Gestalt der „Pilgrim fathers“ auf eine bis heute weitgehend unbestrittene Verquickung von Religion und Politik, wie es der Blick auf politische Legitimationsstrategien („God bless America“) ebenso zeigt, wie der schlichte Blick auf eine amerikanische Banknote („In God we trust“).

 

Religion ist in den USA weder Privatsache noch marginalisiert. Sie ist ein gewichtiger Player der Zivilgesellschaft mit immer deutlicher hervortretenden Ambitionen der konkreten Beeinflussung politischer Entscheidungsprozesse. Von der Gesundheitsvorsorge bis zur Bildungspolitik besetzt eine religiös imprägnierte Lobby dabei geschickt all jene sozialpolitischen Leerstellen, die vom institutionalisierten politischen Betrieb nicht ausreichend bedient werden. Ein feinmaschiges Netz von Stiftungen, privaten TV-Kanälen, Buch- und Internetprojekten sorgt zugleich für eine stete Präsenz in der Arena medialer Öffentlichkeit. Mit Erfolg, wie eine Newsweek-Umfrage unlängst zu Tage förderte: so zeigen sich derzeit 92 Prozent der Amerikaner von der Existenz Gottes überzeugt, stolze 53 Prozent sind laut Gallup-Institut gar der Überzeugung, die Erde sei vor rund 6000 Jahren entstanden.

 

Wen wundert’s, dass sich angesichts dieser Situation mittlerweile eine Gegenbewegung formiert hat, welche sich dem Kampf gegen jede Form religiöser Einflussnahme auf politische Prozesse verschrieben hat. Dabei geht es den „neuen Atheisten“, wie der Blick in Dawkins Buch zeigt, ebenso wenig um eine tief schürfende theologische Argumentation wie den Kreationisten und ID-Verfechtern. Es geht um „Stimmungsmache“ und Stimmenfang nicht nur bei jenen, die unter den Formen öffentlicher Religion leiden, sondern insbesondere bei jenen, denen die eigene Sozialisation ein mittlerweile schmerzendes religiöses Mal eingebrannt hat. Anders gesagt: Dawkins wendet sich an all jene, denen der Psychoanalytiker Tillmann Moser in seinem gleichnamigen Bestseller bereits 1976 eine „Gottesvergiftung“ diagnostizierte. Wie Moser vor über 30 Jahren, so beschreibt auch Dawkins das kindliche Urvertrauen in die Autorität der Erwachsenen als das zentrale Einfallstor der Religion. Es ist dieses enge Zeitfenster, durch welches das Virus der Religion vererbt wird. „Ich werde niemals jene schreckliche Predigt vergessen, die ich als Kind in meiner Schulkapelle hörte“ – aus diesem persönlichen Ressentiment speist sich die Aggressivität, mit welcher Dawkins auf die Religion losmarschiert, mit welcher er sich und den Leser aus ihren Fängen befreien will: „If you are one of them, this book is for you“. – Allein, es sind jene, die es in Europa kaum mehr gibt.

 

Im zentralen Kapitel seines neuen Buches „The God Deulusion“ bemüht sich Dawkins um den Aufweis, „warum es mit größter Wahrscheinlichkeit keinen Gott gibt“. Sein Hauptargument ist dabei so simpel wie effektiv: er dreht einfach das Argument all jener Verfechter der „Gottes-Hypothese“ um, die in der natürlichen Komplexität der Welt den Rockzipfel des göttlichen Designers zu erkennen glauben. Demnach müsse ein Gott, der in der Lage sei, das Leben in dieser überschäumenden Komplexität zu planen und zu designen, noch komplexer sein als seine Schöpfung – eine Feststellung, die mit steigender Bewunderung weltlicher Komplexität die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes schwinden lasse. Doch belässt es Dawkins nicht bei dieser argumentativen Spitzfindigkeit. Vielmehr geht es ihm ums Ganze, um die Frage nach der Wurzel, die das religiöse Verlangen speist und antreibt. Diese Wurzel gilt es auszureißen – zu lang erscheint Dawkins das Sündenregister, zu groß das Gewaltpotential der Religion, als dass sie weiterhin eine so hervorstehende gesellschaftliche Position verdient.

 

Es ist der alte, klassische anti-monotheistische Affekt, dem Dawkins folgt, jener auch im europäischen Diskurs mit steter Regelmäßigkeit wiederkehrende Vorwurf an die monotheistisch konzipierten Religionen, allen voran das Juden- und Christentum, sie legitimierten und beförderten Gewaltexzesse und Vernichtung im Namen des einen Gottes. Wird im europäischen Kontext diese Kritik äußerst elaboriert und mit feiner Klinge vorgetragen, so hält sich Dawkins mit Feinheiten der Unterscheidung nicht lange auf. Wie sähe eine Welt ohne Religion aus, fragt er. Es wäre eine Welt „ohne Selbstmordattentate, ohne 9/11, ohne 7/7 (die Terroranschläge von London, Anm.), ohne Kreuzzüge, ohne Hexenverbrennung, ohne Anschläge, ohne israelisch/palästinensische Kriege, ohne serbisch/kroatisch/muslimische Massaker, ohne Verleumdung von Juden als ,Christus-Mörder', ohne Nordirlandkonflikt, ohne Ehrenmorde und ohne Fernsehprediger, die den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen“. So lautet das simple und zugleich verlockende Angebot eines vermeintlich modernisierten Atheismus a la Dawkins.

 

Was er konkret „anzubieten“ hat, sind verschiedene „bewusstseinserweiternde Botschaften“, die allesamt darauf hinauslaufen, die „spektakuläre Schwäche“ der Argumente für eine Existenz Gottes aufzuzeigen. Dabei schießt sich Dawkins nahezu ausschließlich auf das Gottesbild des Schöpfergottes als „Designer“ ein und bringt gegen diesen die simple (darwinistische) Botschaft in Stellung, dass jede schöpferische Intelligenz allein durch den Prozess gradueller Evolution in die Welt kommt. Auch hier scheint daher wieder durch, dass der vermeintlich neue Atheismus amerikanischer Prägung nichts anderes ist, als eine inneramerikanische Autoimmunreaktion gegen die Selbstverständlichkeit der Verquickung von Religion und Öffentlichkeit.

 

Mag in den USA auch das Gespenst des Atheismus umgehen – Europa braucht es nicht zu fürchten, denn Europa hat – anders als Klaus Taschwer im „Standard“ vom 20. Januar vermutet – nicht mit einer „weniger radikalen Variante“ dieses „Virus“ zu kämpfen, sondern mit einer weitaus heimtückischeren und gefährlicheren Variante: jener der ‚Gottlosigkeit’. Es ist keine laute und polternd in Szene gesetzte Ablehnung, kein „Kreuzzug gegen Gott“ (K. Taschwer), der Europas Kirchen und die Theologie bedroht. Es ist die Lethargie der „Restherde“, die Schicksalsergebenheit, mit der sich das europäische Christentum in seinem Randgruppendasein einrichtet, hier und da wach geküsst durch eine spirituelle Eventkultur, die sich selbst feiert, um gleich danach wieder in Sprachlosigkeit zu versinken. Kurz gesagt: Religiöser Analphabetismus taugt nicht einmal zum Atheismus.

 

Im Blick auf die amerikanische Debatte und das Dawkins-Projekt mag dies vielleicht etwas Tröstliches haben – würde dahinter nicht eine Gefahr lauern, die selbst den Atheismus als Geplänkel erscheinen lässt: es ist dies die Gefahr einer tief greifenden moralischen Erschöpfung, die ihren Kern in der Privatisierung der Religion und in der damit einhergehenden Verdunstung selbst letzter Sinnressourcen, ja dem Verschwinden der Frage nach dem Sinn überhaupt, hat. Keine ideologische Elektrisierung, kein revoltierender Geist scheint das moderne Ich mehr aus seiner Ermüdung und Entleerung, aus seiner „Prozessmelancholie“ (P. Sloterdijk) reißen zu können. Man muss kein Psychologe sein, um in den „Volkskrankheiten Nr. 1“, in Autoaggression und Depression, die Symptome dieser grassierenden gesellschaftlichen Lethargie auszumachen.

 

Dabei gibt sich die Vision vom gottlosen Europa gerade nicht antireligiös – im Gegenteil! Sie gibt sich religionsfreundlich, religionsplural und offen für die vielen Götter der Privatheit. Ein florierender Markt an religiösen Antidepressiva hat sich um das ermüdete Ich gebildet, um es – nicht selten mit zwinkernder Selbstdistanz und Ironie – zumindest für einige Stunden die Woche in eine andere Welt zu entführen und in spirituelle Watte zu packen – nur um es dann erneut in den Gleichklang seines Alltags zu entlassen. So sehr Religion in diesem Sinne wiederkehrt, so sehr versinkt das Christentum als Vision eines biblischen Monotheismus, der Menschen nicht unter dem Joch des Immergleichen belässt, sondern die Idee der Befreiung – seelisch wie materiell! – in sich trägt. Gewarnt sei daher vor einer kirchlichen Neo-Pastoral, die sich – geblendet von den Erfolgen anderer Menschenfischer – ins spirituelle Rennen begibt und darüber vergisst, dass zwischen religiöser Bedürfnisbefriedigung und christlicher Nachfolge ein „garstiger Graben“ (K. Barth) besteht. Bis vor wenigen Jahren lautete der heimliche Schlachtruf aller kirchlichen Basis- und Reformbewegungen „Gott ja, Religion nein“. Im mittlerweile „postsäkularen“ (J. Habermas) Europa sind diese Zeiten längst vergessen und vorbei. „Religion ja, Gott nein“ lautet die Devise.

 

Im Vergleich mit den USA könnte daher die Diagnose paradoxer nicht sein: Das Europa der Religion-zersetzenden Modernisierung, des kämpferischen ‚Nein’ zur Religion, erlebt eine Religions-Renaissance, während die USA in ihrer Verquickung von Politik, Gesellschaft und Religion nun ihren antireligiösen, „atheistischen“ Affekt zu entdecken scheint. Mit dem langsamen Niedergang katholischer Milieus und mit dem Schwinden einer lange Zeit selbstverständlichen Kirchlichkeit verlor in Europa auch der Atheismus als kämpferischer Gegenentwurf seine Speerspitze. Selbst die heutige moderne Theologie mit ihren Zugeständnissen an Pluralismus, Religionsfreiheit und einem wohlverstandenen Säkularismus als staatstragendes Prinzip bietet einem kämpferischen Atheismus kaum mehr Angriffsfläche. Der Alarmismus, mit dem die Kirchen hierzulande auf den amerikanischen, kämpferisch-naturalistischen Atheismus reagieren, scheint vor diesem Hintergrund nicht nur übertrieben, vielmehr scheint er vom eigentlichen europäischen Problem, der bis ins metaphysische Mark der europäischen Gesellschaften reichenden „Gotteskrise“ (J.B. Metz), ablenken zu wollen.

 

Wollen Theologie und Kirche auf diese Krise eine Antwort geben, so bedarf es zuallererst einer theologischen Selbstbesinnung auf den Ausgangspunkt theologischen Nachdenkens über Gott. Denn ihren Ausgang nimmt die Gottesrede (als spezifisch-christliche Disziplin) nicht zuerst im Staunen, nicht in der Anschauung der Natur und ihrer komplexen Schönheit; vielmehr ist es ein Schrei, der den Beginn des Christentums markiert. – Es ist der Schrei des Gottesknechtes in seiner leidvollen Gottverlassenheit am Kreuz, der Schrei jenes Menschen, von dem wir im Glauben sagen, dieser ist Gott für uns. So verstanden ist christliche Theologie geradezu die Negation natürlicher, pantheistischer Religiosität (das bedeutet freilich keine Absage an eine eigene Theologie der Schöpfung, im Gegenteil: eine solche christliche Schöpfungstheologie ist erst ‚komplett’, wenn sie nicht beim anfänglichen biblischen Schöpfungsakt staunend verharrt und stehen bleibt, sondern die Geschichte des Falls und die drängende Hoffnung auf Neuanfang und Erlösung, d.h. die Eschatologie, mit einbezieht). Eine solche Selbstbesinnung liefert freilich noch keine pastoralen Konzepte gegen die europäische Lethargie. Sie könnte aber das Rüstzeug bilden, um den Verlockungen einer (krypto-theologischen) Naturalisierung des Glaubens in Zeiten der „Gotteskrise“ zu widerstehen und eben jenen erschöpften Subjekten eine Stimme zu geben, deren Schrei im Rhythmus dahinplätschernder Alltäglich- und Gleichgültigkeiten gänzlich zu verstummen droht.

 

Erschienen in "Die Furche", 5. April 2007

 

Im Original kann der Text hier heruntergeladen werden:

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Geplänkel um den "Gotteswahn"
Ein Essay über Dawkins' "Gotteswahn" und die Folgen aus nüchtern-europäischer Perspektive
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Cover: Verlag der Weltreligionen
Cover: Verlag der Weltreligionen

Religion auf dem Seziertisch

 

Religion ist ein „natürliches Phänomen“, das sich mit den Mitteln der Evolutionstheorie erklären und damit letztlich entzaubern lässt. Diese These entfaltet der amerikanische Philosoph und bekennende „Bright“ Daniel Dennett in seinem nun auf Deutsch erschie-nenen Buch „Den Bann brechen

 

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Konzert und lauschen gebannt und atemlos einem berührenden Konzert. Die Musik verzaubert Sie … und plötzlich klingelt ein Handy. Der Bann ist gebrochen, der Zauber zerstört. Mit diesem Bild beschreibt der amerikanische Philo-soph Daniel Dennett in seinem nun auf Deutsch erscheinenden Buch „Breaking the spell“ („Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen“) seine Absicht, religiöse Menschen durch das Feuer der Aufklärung zu jagen und so aus ihrer religiösen Verzückung zu reißen. Sein Buch möchte jenes Handy sein, aus dem heraus die bloße Vernunft so laut und durch-dringend bimmelt, dass sie den faulen Zauber verpuffen lässt.

 

Dass eine solche Entzauberung Not tut, liegt für Dennett spätestens seit dem 11. September 2001 auf der Hand. Ob islamistische Selbstmordattentäter das „World Trade Center“ zum Einsturz bringen oder „christliche Fundamentalisten“ eine Abtreibungsklinik in die Luft jagen – für Dennett ist klar, dass es die dunkle Seite der Religion ist, die hier ihre spätmoderne bes-tialische Fratze zeigt. Tatsächlich hat Religion in den USA niemals jenes Nischendasein fris-ten müssen, aus dem heraus sie derzeit etwa in Europa in eine weitgehend säkularisierte Um-welt hineinträufelt. Religion ist in den USA mehr als ein Faktor privater Moral und Sinnstif-tung – sie ist Wirtschaftsmacht und Politikum, wie etwa das Werben Obamas und McCains um die Gunst evangelikaler Wähler deutlich macht.

 

Die These, die Dennett dabei auf langatmigen 500 Seiten entfaltet, lautet schlicht, dass Reli-gion ein „natürliches Phänomen“ darstellt, d.h. ein Phänomen, dass sich aus pragmatischen Gründen in grauer Vorzeit in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern ausgebildet und mit evolutiver Zielsicherheit immer weiter ausdifferenziert und entwickelt hat. Der „Clou“: wenn sich Religion somit wissenschaftlich entzaubern lässt, lässt sich auch ihre heutige Bedeutung relativieren und eindämmen. Denn Religion ist stets „janusgesichtig“: Sie dient als Lebens-stütze, „lässt Durchschnittsmenschen über sich hinauswachsen und bietet vielen handfeste Unterstützung“ – auf der anderen Seite jedoch vermag sie den Verstand des Menschen einzu-nebeln, ihn zum Handlanger der Unmoral zu machen.

 

Als Erklärungsmuster dient Dennett die „Memetik“. Diese besagt, dass religiöse Riten, Ritua-le, Glaubensüberzeugungen und moralische Bindungskräfte zu einem „Mem“ werden können, d.h. zu einer tradierbaren Informationseinheit, die sich ähnlich der genetischen Vererbung von Generation zu Generation kulturell weitervererbt. Bewährte „Meme“ werden dabei – ganz nach den Gesetzen der Evolution – tradiert, verfeinert, variiert, andere hingegen werden selek-tiert und ausgeschieden.

 

Es überrascht nicht, diese These aus dem Mund Dennetts zu hören, bezeichnet er sich doch offen als „Bright“, d.h. als Anhänger jener Gruppe, die sich als von der Vernunft „erleuchte-te“ Vorkämpfer eines „neuen Atheismus“ verstehen. Doch auch die „Brights“ kommen offen-bar nicht ohne messianisches Sendungsbewusstsein aus. So kann auch Dennett am Ende der Versuchung zum religiösen Populismus nicht widerstehen und ruft seinen Lesern zu: „Wie der Erweckungsprediger sage ich euch: O ihr Gläubigen, die ihr euch fürchtet, das Tabu zu brechen: Lasst los! Lasst los! Ihr werdet den Sturz kaum spüren!“

 

Was sagt das Buch nun dem europäischen Leser? Im Blick auf die entfaltete These – nichts. Aus europäischer Perspektive betreibt Dennett nicht viel mehr als Schattenfechterei. Wer weigert sich etwa innerhalb des Christentums oder Judentums ernsthaft, begründet Zeugnis abzulegen? Wer sträubt sich noch ernsthaft gegenüber jeder Form historischer Forschung die eigene Religion betreffend? Wer zweifelt daran, dass Religion stets auch Ausdruck gesell-schaftlicher Kämpfe ist? Und warum ignoriert Dennett eigentlich die längst theologisch aner-kannte und etablierte Disziplin der Religionswissenschaften?

 

Darüber hinaus bleibt Dennetts Religionsbegriff merkwürdig unbestimmt. Es ist gerade dieses Fehlen jeglicher persönlicher religiöser Musikalität, die Dennett letztlich zum Problem wird: Vielleicht wäre seine Kritik trennschärfer, treffender und für den tatsächlichen Religionsdis-kurs auch in Europa produktiver gewesen, wenn er den Blick aus der Innenperspektive ge-wählt hätte, doch allein, ach, ihm fehlt der Glaube.

 

Zu Gute halten muss man Dennetts Buch jedoch, dass es dem europäischen Leser die tiefen gesellschaftlichen Verwerfungen und Gräben in der amerikanischen Gesellschaft vor Augen führt. Wo nämlich evangelikale Christen Amerika im Sumpf des Relativismus versinken se-hen, sehen die „Brights“ im Gegenzug das Weiße Haus unter dem Zeichen des Kreuzes im Missionseifer die freiheitlichen Wurzeln der amerikanischen Gesellschaft theokratisch unter-graben. So abstrus beide Extrempositionen sind, so sehr zeigen sie, dass Religion – selbst als vermeintlich „natürliches Phänomen“ – ein Politikum ist und bleibt.

 

 


"Neuer Atheismus" - Gefährlicher Angriff auf die Religion oder zahnloser Tiger?

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Kommentare: 1
  • #1

    Gottfried Riegler-Cech (Donnerstag, 15 Dezember 2011 09:50)

    Wenn wir (noch) im Zeitalter der Postmoderne leben, dann kann sich jeder aussuchen wo er steht - im Naturalismus oder in der Religion.