Das Christentum als Wurzel und Fremdkörper Europas
Wortlaut des Vortrages von Kardinal Christoph Schönborn im Rahmen der Ouverture Spirituelle der Salzburger Festspiele 2012
"Der Beitrag des Christentums zur europäischen Kultur" lautete der Titel eines Vortrages von Kardinal Christoph Schönborn, den er im Rahmen der diesjährigen "Ouverture Spirituelle" der Salzburger Festspiele am 20. Juli gehalten hat. Der Wiener Erzbischof zeigte darin Judentum und Christen als Wurzel und zugleich Fremdkörper der Kultur Europas in Geschichte und Gegenwart auf:
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Sehr geehrte Damen und Herren!
Zuerst: Herzliche Gratulation dem Intendanten der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, zu der Idee, den Festspielen eine Ouverture spirituelle vorauszuschicken. Ich gratuliere zur Idee, diese Ouverture in ihrem ersten Jahr mit dem Thema der jüdischen und christlichen Wurzeln der europäischen Kultur zu beginnen. Und da eine Ouverture meist durchaus kontrastreiche Themen anklingen lässt, so möchte ich meine kurzen Ausführungen unter eine aufs Erste gesehen kontradiktorische Spannung stellen.
Meine Frage lautet: Ist das Judentum, ist das Christentum - auf je eigene Weise - nicht eher ein Fremdkörper in Europa? Oder sind sie, in einer höchst fruchtbaren, aber zeitweise auch furchtbaren Spannung, beides zugleich, Wurzeln und Fremdkörper? Und können sie vielleicht nur dadurch so befruchtend sein für die europäische Kultur, indem sie beides bleiben und immer neu als solches erfahren werden: zugleich Wurzel und Fremdkörper? Ich werde diese These - stichwortartig - durch die europäische Geschichte hindurch verfolgen. Sie können vorweg zu Recht einwerfen, dass ein solcher Parforce-Ritt nur misslingen kann. Versuchen wir es trotzdem.
Jüdisch-christliches Nein zum Pantheon
Meine 1. These: Das Christentum tritt in der Antike als Fremdkörper auf - und wird es heute wieder zusehends. Die römische Kultur hatte einen großen Magen. Sie kannte kaum Probleme mit der Integration fremder, neuer Völker und Kulturen und Kulte sowie deren Religion. Mit einer Ausnahme: dem Judentum, und in seiner Folge dem Christentum. Alle die Kulte, die die Soldaten von ihren Kriegszügen mitbrachten und denen Sklaven und Freigelassene anhingen, fanden ihren Platz im römischen Pantheon.
Nur die Juden und die Christen weigerten sich, als eine Religion unter anderen sich in dem heidnischen Pantheon einzufügen. Man warf ihnen dementsprechend scharf vor, sie seien gesellschaftsfeindlich. Ihr Anspruch, die vera religio zu sein, wurde als anmaßend empfunden. Beiden Religionen warf man vor, sie hegten ein "odium humani generis", den Hass auf die übrige Menschheit. Der Widerspruch ist heftig. Er wird sich politisch in massiven Verfolgungen äußern. Das Martyrium wird aber nochmals als Bestätigung gesehen, dass das Christentum die vera religio, die vera philosophia ist, für die zu sterben sich lohnt. "Sanguis martyrum semen christianorum" sagt Tertullian (das Blut der Märtyrer ist ein Samen für - neue - Christen).
Angesichts der massiven Verfolgungen und der literarischen Anfeindungen ist die rasche Verbreitung des Christentums über die ganze, damals bekannte Welt und die Entwicklung zur Staatsreligion des Römischen Reiches, ein Wunder. Wenn dieses Wort zu emphatisch ist, dann müsste man zumindest von einer schwer zu erklärenden Entwicklung sprechen. Und so stehen wir vor der Frage: Wie wurde der Fremdkörper Christentum zur Wurzel Europas? Gerne wird dabei auf eine Szene im Leben des Apostels Paulus verwiesen, die diesen Wandel symbolisieren kann.
Sie steht im 16. Kapitel der Apostelgeschichte. Paulus befindet sich in Troas, in Kleinasien, auf seiner zweiten Missionsreise. Da erschien ihm im Traum ein Makedonier, ein Grieche, und bittet ihn: "Komm und hilf uns!" "Auf diese Vision hin", so schreibt Lukas, der Paulus begleitet, "wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden" (Apg 16, 9-10). Und so kam das Evangelium erstmals nach Europa, nach Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth und schließlich bis nach Rom, wo Paulus, ebenso wie Petrus, für seinen Glauben starb.
Was kam da nach Europa? Ein Fremdimport? Eine Hilfe? Etwas, das Europa erst Europa werden ließ? Oder etwas, wovon sich Europa erst in einem langen Prozess der Aufklärung emanzipieren musste und immer noch muss, um von Fremdbestimmungen frei zu werden? Jetzt, da diese "Emanzipation" Wirklichkeit zu werden sich anschickte, erheben sich besorgte Stimmen, die vor den Folgen einer Entchristlichung Europas warnen. So etwa Jürgen Habermas, der vor einer "entgleisenden Moderne" warnt und besorgt einen Verfall des ethischen Bewusstseins, eine Tendenz zur Entsolidarisierung und eine Verknappung der "Ressource Sinn" beobachtet.
Viel wäre zu nennen, was sich bei genauerem Hinsehen positiv als Früchte der christlichen Wurzeln erweist, die nicht verloren gehen sollen. Rémi Brague hat eben in einem beeindruckenden Beitrag in "Communio" davon gesprochen ("Unsere neue Problemlage: Das Scheitern des Atheismus und die Notwendigkeit der Religion", Communio, Mai-Juni 2012). Drei Elemente nenne ich exemplarisch, erstens die Gottebenbildlichkeit des Menschen, zweitens das Bewusstsein von der Einheit des Menschengeschlechts und drittens die Betonung der menschlichen Freiheit auch und besonders in der Frage der Religion. Aber ist Letzteres, die Verteidigung der Freiheit, wirklich eine Frucht der christlichen Wurzeln Europas?
Aufklärung und Christentum brauchen einander
2. These: Aufklärung und Christentum brauchen einander, keine genügt sich selber. Ist das moderne Europa nicht vor allem ein "Kind" der Aufklärung, die ihre Werte und Sichtweisen oft gegen die Kirche, ja gegen das Christentum artikuliert und erkämpft hat? Immer wieder wird der Einwand formuliert, nicht das Christentum sei die Wurzel der europäischen Sicht der Menschenrechte, sondern diese sei gegen den zähen Widerstand besonders der katholischen Kirche erkämpft worden.
Eines ist sicher: Die Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert hat die abendländische Gesellschaft zutiefst erschüttert. Wir können uns kaum vorstellen, welche Traumata die Spaltung in "neuen" und "alten" Glauben für die Menschen bedeutet hat. Man hat die daraus folgenden Religionskriege "hermeneutische Bürgerkriege" genannt, weil sich die streitenden Parteien durch verschiedene Auslegungen der für alle gleichen Bibel legitimierten.
Wenn wir noch tiefer zu gehen versuchen, müssen wir über die Frage der Religionen hinaus bis zur Gottesfrage vorstoßen. Sie ist letztlich angesprochen, wenn wir die Krise Europas seit der Glaubensspaltung betrachten. Der Philosoph Odo Marquard spricht von einer "Tribunalisierung Gottes": Gott selbst wird angeklagt. Die alte Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Güte und dem Übel wird neu und akut gestellt: Unde malum? Woher kommt das Böse?
Auf diese Frage kann das naturwissenschaftliche Weltbild keine Antwort geben. Genauer: der Versuch, darauf Antwort zu geben, war der Fortschrittglaube. Einmal wird der Fortschritt alle Übel beseitigen: Die Krankheiten werden durch die Fortschritte der Medizin überwunden, die Ungerechtigkeiten durch wirtschaftlichen Fortschritt. Der Fortschrittsglaube hat die Religion ersetzt. Aber er hat zwei Haken: Erstens hilft mir heute ein künftiger Fortschritt nicht mehr. Dann bin ich schon tot. Denn "on the long run we are all dead". Und das schon geschehene Unrecht und Leid wird dadurch nicht ungeschehen gemacht.
Grenzen des Fortschrittsglaubens
Und zweitens besteht berechtigter Zweifel am unbegrenzten Fortschritt. Den gibt es nicht. Die Heilserwartungen, die der Marxismus und andere Formen des Fortschrittsglaubens hegten, haben sich nicht erfüllt. Sie können sich nicht erfüllen. Denn wir sind nur Gast auf Erden. Die Zeit unserer Pilgerschaft ist begrenzt, die Ressourcen unserer Erde, auf der wir pilgern, ebenso. Wer das nicht wahrhaben will, hinterlässt den kommenden Generationen unvorstellbare Schuldenberge und ökologische Verwüstungen.
Die Frage ist am Ende des Tages nüchtern zu stellen: Und das war schon alles? Die Situation des Christentums in Europa ist paradox. Es scheint weitgehend marginalisiert. Die Kirchen sind "unter ferner liefen" auch noch da. Aber sie haben kaum ein gewichtiges, prägendes Wort. Und doch sehe ich sie nicht als "Auslaufmodell" in einem Europa, in dem die Sinnressourcen knapp werden. In mancher Hinsicht sind wir wieder am Anfang des Christentums: in einer religiös und kulturell pluralen Welt, in einer weitgehend "heidnischen" Welt, in der die in Jahrhunderten eingeübten christlichen Grundhaltungen verlernt wurden, in der Astrologie und Abtreibung, Aberglaube und Ängste vorherrschen.
Die Christen sind zwar nominell in Europa die sehr große Mehrheit. Die "praktizierenden" Christen aber sind eine Minderheit. Ich sehe die Situation des Christentums in Europa als etwas sehr Spannendes und Chancenreiches. Es ist in vieler Hinsicht ein Fremdkörper - und weckt doch bei vielen, das Gefühl von Heimat. Es gibt in Europa zunehmend "Heimkehrer", Menschen, die aus einer völlig säkularen Lebensweise heraus den Weg zu einem bewussten Glauben finden. Sie beschreiben ihren Weg oft als ein Nach-Hause-kommen. Hier liegt die unverwechselbare Kraft des Christentums: Es verleiht eine doppelte Bürgerschaft, eine irdische und eine himmlische. Es lädt ein zu loyalem Mitwirken in der Gesellschaft, zum Annehmen der Verantwortung für die civitas terrena, ohne diese utopisch umstülpen oder umstürzen zu wollen.
"Freiheit eines Christenmenschen"
Dieses gelassene Engagement im Zeitlichen hat seinen Grund in der gleichzeitigen Zugehörigkeit zur civitas Dei. Dieser Anspruch, nicht nur Bürger der irdischen civitas zu sein, hat alle totalitären Denker und Diktatoren zum Hass auf die Kirche bewogen. Denn der Christ ist frei dem Staat gegenüber, weil er nie nur Staatsbürger ist. Nie kam diese "Freiheit eines Christenmenschen" schöner zum Ausdruck als bei den "Bekennenden Christen", die sich in der Freiheit des Glaubens dem totalitären Zugriff des Staates entzogen. Dietrich Bonhoeffer ist ein leuchtendes Beispiel dieser Freiheit, und ebenso der einfache oberösterreichische Bauer Franz Jägerstätter, um nur zwei zu nennen.
Dieses Ferment der Freiheit hat das Christentum im heutigen Europa einzubringen, als Freiheit gegenüber den Ansprüchen des mainstream, der political correctness oder einfach dem Zwang der Mode. Diese Freiheit hat eine tiefere Quelle, eine unerschöpfliche Ressource. Wir haben zu Beginn auf das so erstaunliche Phänomen der raschen Ausbreitung des Christentums in seinen Anfängen gesprochen. Ich sehe dafür neben anderen Gründen vor allem einen: Diese Ausbreitung hat mit dem zu tun, der dazu ausdrücklich den Auftrag gegeben hat und dabei versprochen hat: "Seht, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Zeit" (Mt 28,20).
Diese Zusage Jesu Christi ist die stärkste Ressource des Christentums, und sie verifiziert sich immer neu auf höchst überraschende Weise. Aus ihr erklärt sich die unerschöpfliche Regenerationskraft des Christentums. So oft schon als sterbend erklärt, erlebt es aus der Kraft des Auferstandenen immer wieder seine Auferstehung. Fremdkörper in Europa und doch auch Wurzel: Das ist die spannende Situation des Christentums im säkularen Europa. Dieses sieht das Christentum oft kritisch. Und das ist gut so. Europa braucht beides: den prophetischen Einspruch des Evangeliums als heilsame Unruhestiftung. Aber das Christentum braucht auch die kritische Rückfrage des säkularen Europa. Sie tut ihm gut. Sie weckt es auf, fordert es heraus. Sie stellt ihm unerbittlich die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit.
Im Tiefsten, so glaube ich, sehnt sich Europa nach einem authentischen Christentum. Denn wir alle, säkulare oder gläubige Europäer wissen insgeheim: die Wurzel, die Europa auch in Zukunft tragen kann, ist eben dies: ein glaubwürdiges, seinem Ursprung treues Christentum, so fremd es uns auch bisweilen scheinen mag. Braucht Europa nicht dringend eine neue Liebe zu diesem ihm so Fremden und doch so Nahen: dem Christentum?
Besinnung auf jüdische Wurzeln
3. These: Beide, das Christentum und das säkulare Europa, brauchen die Besinnung auf die gemeinsamen jüdischen Wurzeln. Um zu dieser Liebe zurückzufinden, bedarf das Christentum, aber ebenso das säkulare Europa, jedoch auch einer anderen, unabdingbaren Erinnerung: der Besinnung auf seine eigenen Wurzeln im Judentum. Allzu lange, allzu schmerzlich, allzu reich an tragischen Folgen war es, dass das Christentum das Judentum mehr als Fremdkörper denn als Wurzel gesehen hat. Erst die grundlegende Neuorientierung durch das II. Vatikanische Konzil, vor allem durch die Erklärung "Nostra Aetate", hat hier einen epochalen Wandel eingeleitet, den nichts rückgängig machen darf.
Es geht um die Anerkennung, dass - um einen Buchtitel von Friedrich Heer zu zitieren - "Gottes erste Liebe" dem Volk des Ersten Bundes gilt. Diesem Volk, diesem Ersten Bund, verdanken wir das Wissen, das uns heute Abend in Haydns' "Schöpfung" so wunderbar begegnen wird: dass diese Welt "Schöpfung" ist, von Gottes treuer Liebe getragen; dass Gottes 10 Weisungen vom Sinai (auch 10 Gebote genannt) das Fundament jedes gerechten Zusammenlebens sind; und dass es so etwas wie eine Rechenschaftspflicht für unser Tun und Lassen gibt, das große Jedermann-Thema. Möge diese "Ouverture spirituelle" ein wenig dazu beitragen, in unserem orientierungslosem und zurzeit recht ratlosen Europa Orientierungspunkte zu setzen, damit unsere geistigen Wurzeln nicht zu Fremdkörper werden.
Das „Benedikt-Projekt“
In seiner Regensburger Rede beleuchtete der Papst erneut das Verhältnis von Vernunft und Glaube. Erst der Vergleich mit früheren Aussagen zeigt dabei die Verschiebungen und Weichenstellungen zu Gunsten des Glaubens – und zugleich auf Kosten entscheidender biblischer Traditionsstränge
Nach einem medial wohlkanalisierten Proteststurm haben sich mittlerweile die Wogen rund um das ominöse Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel II. geglättet, mit dem Papst Benedikt XVI. den Zorn zahlreicher Muslime auf sich gezogen hat. Zeit also, auf den eigentlichen Gegenstand der Rede zu blicken, wie es Papst Benedikt selbst in der unlängst publizierten, überarbeiteten Version seiner Regensburger Ansprache empfiehlt, heißt es doch in der an entsprechender Stelle eingefügten Fußnote: „Bei der Zitation des Texts von Kaiser Manuel II. ging es mir einzig darum, auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen“.
Glaube und Vernunft, da ist es wieder, jenes Begriffspaar, das der Journalist Jan Ross als geradezu programmbildendes Chiffre des „Benedikt-Projekts“ bezeichnete und welches in der vorliegenden Ansprache zunächst als scharfes Abgrenzungskriterium gegenüber jeglicher religiös motivierter Gewalt ins Feld geführt wird, um im selben Atemzug diese Ablehnung aus der christlichen Überzeugung heraus zu erklären, dass Gott nicht durch das Schwert handelt, sondern vernunftgebunden, „mit Logos“, wie es der Papst formuliert.
Wer die Regensburger Reflexionen auf das im Übrigen alles andere als unumstrittene Verhältnis zwischen Christentum und griechischem Vernunftdenken verstehen will, wer sich fragt, was den Papst so ruhelos das Schreckgespenst einer dreifachen „Enthellenisierungsbewegung“ in seiner Rede umkreisen lässt, der sollte sich deutlich machen, was für Benedikt auf dem Spiel steht, oder anders gesagt: der sollte sich in erster Linie nicht an den spezifisch theologischen Schriften des ehemaligen Professors und obersten Glaubenswächters orientieren, sondern die zeitdiagnostischen Bemerkungen wahrnehmen, in denen er das Bild einer entgleisenden Moderne zeichnet, die nicht mehr in der Lage ist, Heilungskräfte aus sich selbst heraus zu rekrutieren. – Ein solches Szenario skizziert Ratzinger zuletzt in seiner viel zitierten Begegnung mit Jürgen Habermas 2004 in der Katholischen Akademie Bayern.
In seinem damaligen Statement beschrieb Ratzinger eine von Machbarkeits- und Globalisierungsträumen beherrschte „Weltgesellschaft“, deren „ethische Gewissheiten weithin zerbrochen“ sind und die nun – moralisch schutz- und orientierungslos – auf den Weltmeeren globalisierter Handelswege hin- und herwogt, ohne Steuermann und nicht einmal mehr mit dem von Kant besungenen „bestirnten Himmel“ über ihr. Diffuse Ängste und die Unfähigkeit, die spätmoderne Ungewissheit auszuhalten, bestimmen den rasenden Puls der Zeit. In dieser Situation beschwor Ratzinger den Glauben und seine Vernunftformen als machtlose Gegenmacht. Sein konkretes „Angebot“: Die säkulare, halt- und schrankenlos gewordene Vernunft müsse angesichts der Gefahr einer ihr innewohnenden, vernichtenden Dialektik selbst „an ihre Grenzen gemahnt“ werden und „Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit“ zeigen. Es bedürfe daher einer „Korrelationalität von Vernunft und Glauben“, die eine „gegenseitige Reinigung und Heilung“ möglich mache – wohl gemerkt: eine gegenseitige, auch der Glaube würde demnach nicht un-versehrt durch das Feuer der Aufklärung hindurchgehen.
In der Regensburger Rede, so scheint es, ist der Glaube nun jedoch über jeden aufklärerisch verordneten Selbstzweifel erhaben: Der „logos“, die Vernunft, tritt nicht mehr dem Evangelium hinzu, er wird als dem Geist des Evangeliums geradezu immanent beschrieben, trägt das Evangelium laut Benedikt doch „in sich selbst die Berührung mit dem griechischen Geist“. Zugleich sieht der Papst die säkulare Vernunft in der Krise, wo immer sie sich bereitwillig den nurmehr naturwissenschaftlichen Geltungsansprüche einer mathematischen oder experimentellen Überprüfbarkeit unterwirft. Anders gesagt: es schwächelt nicht etwa der Glaube, sondern die Vernunft. Sämtliche Wissenschaften, so Benedikt, sei es Psychologie, Soziologie oder eben die Philosophie, seien dabei, sich diesem Paradigma zu unterwerfen – mit der Folge, dass es ihnen nicht mehr gelinge, die Fragmentarität ihres Denkens in ein einheitliches Universum einzufügen. Selbst Ethos und Religion sieht Benedikt in den privaten und damit fragmentierten Bereich einwandern – ein Zustand, den der Papst als „gefährlich“ einstuft, da dem Subjekt damit vollends der Geschmack des Universalen verloren zu gehen drohe. Alle säkularen Kompensationsstrategien blieben da letztlich „ethische Versuche“, die jedoch „ganz einfach nicht ausreichen“, so Benedikt. Das „Neue“ der Regensburger Rede aus der Sicht des Vernunftthemas liegt daher in der Doppelstrategie einer Beschreibung der Krise der säkularen Vernunft und zugleich der Behauptung der Verschmelzung von Glaube und Vernunft, von Benedikt expli-ziert anhand des Johannes-Evangeliums.
Doch so argumentativ wohlgeformt und durchstrukturiert sich das „Benedikt-Projekt“ auch darstellen mag, es bleibt eine Theologie, die mit die mit der starken Grundannahme operiert, dass die zeitdiagnostischen Pathologien keinen anderen Ausweg lassen, als jenen einer gläubigen Demut, wohlgemerkt: einer christlichen Demut, die für sich in Anspruch nimmt, dem griechischen Denken wesensverwandt zu sein. Dabei bleiben exegetische wie systematische Einwände. So kennt das biblische Erbe durchaus auch a-rationale Restbestände, kennt die Bibel das Streiten der Propheten nicht nur wider gesellschaftliche Missstände, sondern gegen ihren Gott selbst, kennt Israel eine Widerständigkeit im Gott-Denken, die im Bilderverbot als dem Gebot der Nicht-Identifikation Gottes sowie – zuletzt – in der Theodizeefrage wurzelt. Israel begegnet dieser Widerständigkeit nicht etwa mit philosophischer Spitzfindigkeit, sondern mit – Schweigen.
Indem Benedikt einer speziellen neutestamentlichen Traditionslinie den Vorrang gibt, betreibt er theologisch damit letztlich nicht weniger als die Einebnung dieser Widerständigkeiten, in denen gerade die Gottespassion, ja die Gottesleidenschaft des Volkes Israel in seinem Ringen mit Gott fußt. „Das Christentum ist die in Jesus Christus vermittelte Synthese zwischen dem Glauben Israels und dem griechischen Geist“, formulierte Joseph Ratzinger bereits vor über 20 Jahren. Bedeutet das jedoch nicht die Unterstellung, dass der Glaube zwar aus Israel, der Geist hingegen – vielleicht gar ausschließlich? – aus Athen, sprich: aus Griechenland stammt?
Dagegen gilt es festzuhalten: Was Israel „anbietet“, ist mehr als eine archai-sche Form der Ratio: es ist ein Denken, in dessen Windschatten zum ersten Mal so etwas wie „Geschichte“ spürbar wurde: und zwar just in dem Moment, wo Zeit nicht – wie heute üblich – als unaufhaltsam verrinnende Bewegung in die Ewigkeit verstanden wurde, sondern als Frist, vielleicht gar als Galgenfrist, insofern es Gott ist, der ihr einst ein Ende bereiten werde. So „irrational“ dies heute erscheinen mag, so nüchtern muss man attestieren, was dieses Fristdenken bewirkt hat: es hat Welt- und Lebenszeit in einen unlösbaren Zusammenhang gestellt, es hat unter Zeitdruck gestellt und damit Handlungskapazitäten freigesetzt, schließlich hat es die Vergangenheit nicht als „erledigt“ memoriert, sondern sie in ihrer Offenheit in die Zukunft getragen. Ob eine Übersetzung dieser eschatologisch angeschärften Perspektive in den johanneischen Kosmos ohne weiteres gelingt, darf bezweifelt werden.
Was hat die Allianz von Vernunft und Glauben den ausgelaugten, bisweilen selbstdestruktiven Seelen der Spätmoderne also zu bieten? Ihr Trostangebot er-schöpft sich, wie es scheint, im abstrakten Verweis auf den „Eintritt in die Wahr-heit“, in der Rede von Heilung durch Heiligung. Die Konkretisierung eines christlichen Ethos’, eines Glaubensvollzugs im Praktischen, sucht Benedikt hingegen gerade dort, wo man es für einen Gelehrten am Wenigsten erwarten mag: in den Urbildern katholischer Erdverbundenheit, in der Heiligen- und Marienverehrung und der Wiederbelebung einer Alltagsfrömmigkeit, deren Kraftpole zwischen Gottesdienst und Herrgottswinkel changieren.
Die päpstliche Zeitdiagnose mag Vieles für sich haben, die Medizin jedoch bleibt zumindest fragwürdig, wo sich ihre Wirkung nur dem gläubigen Auge er-schließt.