In seinem neuen Werk erzählt Jürgen Habermas, wie die Philosophie zur Vernunft kam. Fromm wurde er deswegen keineswegs. Aber keine Sinnquelle gibt der Sinnsucher dabei verloren. Eine Rezension.
Es gibt Texte, die lesen sich wie ein Vermächtnis. Etwa der kurze Text "Zum Ende" aus Adornos berühmter Aphorismensammlung "Minima Moralia". Er hebt an mit dem
Satz: "Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich
darstellten." Ist Theodor W. Adorno, der Vordenker der als marxistisch und quasi a-religiös abgestempelten Frankfurter Schule, also am und zum Ende fromm geworden? Nein, gewiss nicht. Aber er hat
– tief verunsichert von einer katastrophischen, mit der Kennung Auschwitz versehrten Zeit – aufgezeigt, dass es unabgegoltene, säkular-philosophisch kaum einholbare semantische Potenziale gibt,
die im Religiösen schlummern, die jedoch einer Übersetzung bedürfen, um "ins Säkulare, ins Profane einzuwandern", wie Adorno andernorts schreibt.
Warum dieser Umweg als Ouvertüre einer Rezension des neuen Werkes von Jürgen Habermas? Der Umweg legt sich nahe, weil gerade das oben angetippte Zitat Adornos –
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern" – geradezu einen Schlüssel zum gesamten
Mammut-Projekt "Auch eine Geschichte der Philosophie" darstellt. Und ebenso wenig wie Adorno zum Ende frömmelte, bleibt auch Habermas am Ende ein standhafter Vertreter nachmetaphysischen Denkens,
dem es denkerisch um Alles geht – aber eben ein Alles aus Sicht einer Philosophie, die sich das religiöse Erbe neugierig und doch auf Distanz haltend aneignen möchte.
Es ist dies also nichts Geringeres als der Versuch
einer Erneuerung der Geschichtsphilosophie.
Anders gesagt: Habermas wagt ein eigentlich unmögliches Unternehmen: die Rekonstruktion der Philosophiegeschichte unter dem großen Vorzeichen des Diskurses von
Glauben und Wissen. Um aufzuzeigen, wie sich das säkulare Denken aus dem Würgegriff der Religion und Theologie befreite, arbeitet sich Habermas durch Epochen und Zeitalter, durch historische
Quellen und verflossene Diskurse. Dabei ist es sein Ziel, das zähe Ringen zwischen Glauben und Vernunft als "Genealogie nachmetaphysischen Denkens" überhaupt zu rekonstruieren. Es ist dies also
nichts Geringeres als der Versuch einer Erneuerung der Geschichtsphilosophie; eine Fährte, die Habermas allein schon mit dem Titel legt, ist dieser gleichsam augenzwinkernd einem Essay von Johann
Gottfried Herder entlehnt: "Auch eine Philosophie der Geschichte".
Wer Großes denkt, muss Großes lesen und lange, manchmal grobe Fäden spinnen. Und so rekonstruiert Habermas die Emanzipationsgeschichte der Philosophie ausgehend von
der sogenannten "Achsenzeit" – jene von Karl Jaspers beschriebene epochale Zeit sozialer, gesellschaftlicher, politischer aber auch geistesgeschichtlicher Umbrüche zwischen dem 8. und 2.
Jahrhundert v.Chr. – über die Symbiose von Glauben und Wissen im christlich aufgeladenen Platonismus, über Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Luther, bis hin zur „Wegscheide“ der
Philosophie: zur historischen Konstellation Kant vs. Hume und den Folgen in Form von Hegel, Marx und Kierkegaard.
Sein Interesse gilt also zuvorderst nicht der Religion oder der Theologie, sondern der Ausleuchtung des dunklen Wurzelgrundes der abendländischen Philosophie, die
über viele Jahrhunderte eingekapselt in religiösen Diskursen schlummerte, bevor sie sich über die Revolution der Welt- und Menschenbilder langsam freikämpfte.
Das liest sich – bei allen Mühen, die 1.750 Seiten selbst
dem geneigten Leser abverlangen – durchaus stringent,
als würde diese Version einer Geschichte der Philosophie
keinen Widerspruch dulden.
Was Habermas bei diesem Parforce-Ritt durch die Philosophiegeschichte eindrucksvoll herausstreicht – und was zugleich vielen Vertretern seiner eigenen Zunft nicht
schmecken dürfte – ist die Tatsache, dass es gerade auch religiöse Entwicklungsschübe waren, die durch die Versprachlichung des Sakralen zur Emanzipation der säkularen Philosophie beitrugen: Bei
Augustinus erstarkt das Subjekt als sündiges Gegenüber zu Gott; Thomas erscheint als Jongleur, der die Bälle von religiösem und Weltwissen noch geschickt in der Luft zu halten vermag, Luther wird
zum Motor der Subjektphilosophie schlechthin und Kant zum genialen Steuermann, der auf dem Meer der reinen Vernunft in dem Wissen segelte, sich bei der Navigation auf einen weiterhin bestirnten
Himmel verlassen zu können.
Das liest sich – bei allen Mühen, die 1.750 Seiten selbst dem geneigten Leser abverlangen – durchaus stringent, als würde diese Version einer Geschichte der
Philosophie keinen Widerspruch dulden. Tatsächlich weiß Habermas sehr wohl um die Schwächen des eigenen Entwurfs, etwa um den offenbaren Mangel an Sekundärliteratur. Auch dürfte sein Versuch, die
zerstreuten Mosaiksteine einer kohärenten Geschichtsphilosophie ohne jedes teleologisch überzeichnete Pathos neu zusammenzufügen die eigene Zunft zum Widerspruch reizen.
Darüber hinaus wird der kundige Leser viele Motive wiedererkennen, wie etwa den Gedanken eines bleibend geöffneten Türspaltes zwischen den Räumen der Philosophie
und der Religion. Darauf läuft schließlich auch Habermas‘ Abschlussplädoyer hinaus, demnach die säkulare Moderne sich zwar "aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet" habe, die Vernunft
jedoch "mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern" würde. Dass die Abwehr dieser Gefahr alles andere als eine sterile
philosophische Trockenübung ist, zeigt Habermas unter Verweis auf den religiösen Ritus auf:
"Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt
sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und solange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische
Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung 'ins Profane' harren."
Mit seinem neuen Werk hat Habermas eine Flaschenpost in die Gischt philosophischer Selbstverständigungsdiskurse geworfen. Ob sie bei jenen ankommt, auf die es
Habermas abgesehen hat, muss offen bleiben. Durchaus denkbar, dass sie manch übereifriger religiös motivierte Menschenfischer aus dem Wasser zieht in der Hoffnung, in Habermas einen Verbündeten
im Kampf gegen eine religionsfeindlich erachtete Öffentlichkeit zu finden.
Wird sich der Philosoph dem Sog jener Interpreten widersetzen können, die ihn tatsächlich stärker als es ihm lieb ist in die Nähe der Religion rückt? Zweifeln lässt
ein Blick in die Bestsellerliste des Online-Händlers "Amazon": Dort rangierte das Buch bereits am ersten Tag seiner Veröffentlichung auf Platz 1 – allerdings in der Kategorie "Christliche
Meditation & Spiritualität"…
Erschienen in leicht gekürzter Form in der Zeitschrift "Cicero" (Dezember 2019)
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