Von Abschieden und Aufbrüchen

In unserer Familie lebt man gefährlich. Ein Schneemonster ist unter unserer Eckbank eingezogen...

Foto: privat
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In unserer Familie lebt man gefährlich. Ein Schneemonster ist unter unserer Eckbank eingezogen. Zumindest, wenn man den angstschweren Tränen unserer jüngsten Tochter glaubt. Bei der Ältesten war es vor ein paar Jahren ein Wolf, den es mit phantasievollen Geschichten aus dem Kleiderschrank zu vertreiben galt. Nun liegt neben dem Küchentisch ein Besen bereit, um jederzeit den Angriff des Schneemonsters abzuwehren. Man kann das als alberne Kinderei abtun. Aber die Ängste sind real und sie verlangen daher nach Antworten, die die Verletzlichkeit der jungen Seelen ernst nehmen. Im Fall von Schneemonstern und Wölfen in den eigenen vier Wänden mag das mit ein wenig Phantasie noch recht leicht gehen. Doch was ist, wenn die Ängste größer werden, wenn die Wunden, die sie schlagen, offen zu Tage treten?

 

Bei meinen älteren Kindern sind es inzwischen Corona und die Klimakrise, die sie – und uns Eltern ebenso – die eigene Verletzlichkeit und Hilflosigkeit spüren lassen. Gewiss, man testet sich, Masken werden getragen, gereist wird mit der Bahn, aus der Steckdose fließt Ökostrom. Aber den Schleier der Traurigkeit, der sich über ihre Gemüter gelegt hat, vermag das nicht zu lüften. Denn sie spüren, nein, wir spüren: Leben bedeutet leben in Abschiedlichkeit. Es bleibt alles anders – und es liegt wohl auch nur bedingt in unserer Hand, daran etwas zu ändern. Sich dies einzugestehen, kann aber auch den Kern eines Neuanfangs, einer metaphysischen Revolte darstellen. Denn verletzlich sein bedeutet, dass einem der andere, die Mitwelt nicht egal ist. Es bedeutet, sich einzufühlen in den anderen, sich ihm ganz auszusetzen und damit selber Verwundungen zu riskieren.

„Verletzlich sein bedeutet,

dass einem der andere, dass einem die Mitwelt

nicht egal ist.“

Vielleicht meint Jesu Ermahnung „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 18,3) nichts anderes als das: die eigene Verletzlichkeit nicht als Schwäche zu betrachten, sondern als eine besondere Fähigkeit, die den Mensch zum Menschen macht. Und wohl auch dies: dass jede Verletzlichkeit nach realen Antworten verlangt, nach Engagement, nach der alles umkehrenden Tat.

 

Im Fall von Corona und der Klimakatastrophe mag das komplex und überfordernd sein. Im Fall des Schneemonsters war die Sache im Übrigen recht einfach. Eine unter der Eckbank platzierte kleine Wasserpfütze genügte, um der Tochter klar zu machen: Das Schneemonster ist geschmolzen. Nicht wegen des Klimawandels, sondern wegen der Fußbodenheizung.

 

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