Beiträge aus dem "Rheinischen Merkur"

(bis zu dessen Einstellung Ende 2010)


Foto: Rheinischer Merkur
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Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

 

Seit mehr als vierzig Jahren ist der Sozialphilosoph Stichwortgeber für die gesellschaftlichen Diskurse. Dabei erlebten religiöse Fragestellungen ein Comeback. Eckpunkte einer politisch-theologischen Biografie aus Anlass seines 80. Geburtstags.

 

Erschienen im "Rheinischen Merkur" am 11. Juni 2009

 

Selbst ein Philosoph kann mitunter schroff werden, wenn es um die oftmals eher vermuteten denn tatsächlichen Übergänge zwischen Werk und Biografie geht. „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“, sagt Jürgen Habermas. Der große und – wie er selbst sagt – „alte“ Mann der deutschen Sozialphilosophie feiert am 18.Juni seinen 80.Geburtstag.

 

In dem im Vorgriff auf seinen Geburtstag erschienenen Interviewband „Über Habermas. Gespräche mit Zeitzeugen“ (Primus Verlag) weist er all jene in die Schranken, die nach seinen jüngsten Annäherungen an Fragen von Religion und Theologie hinter dem früher bekämpften Neomarxisten plötzlich einen altersmilden Kryptokatholiken erkennen wollten.

 

Gewiss, er habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass auch seine Begriffe von Verständigung und kommunikativem Handeln „vom christlichen Erbe zehren“, wie er etwa in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag zugestand. Dennoch beharre er auf einer „methodischen Differenz der Diskurse“ in Religion und Philosophie, selbst dort, wo er sich mit seiner jüngsten und viel diskutierten Begriffsschöpfung der „postsäkularen Gesellschaft“ oder der Forderung nach einer säkularen Übersetzung religiöser Semantik weit aus dem Fenster nachmetaphysischen Denkens lehnt – etwa, als er mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger im Jahr 2004 in der Katholischen Akademie in München über „vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ diskutierte.

 

Bleibende Distanz

 

Tatsächlich scheint den Frankfurter Philosophen, der sich selbst stets als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet hat, mit dem damaligen Präfekten der vatikanischen Glaubenskongregation und heutigen Papst mehr zu verbinden als eine zeitliche Nähe zweier vom Zweiten Weltkrieg erschütterter Biografien. Es ist dies die Sensibilität für eine von Entgleisungen gefährdete Moderne, das Erschrecken vor gewaltvoll enthemmten Rationalisierungsprozessen und vor „gesellschaftlichen Pathologien“, die das Individuum bedrohen.

 

Der Unterschied liegt allerdings im Detail: Schmiedet nämlich Joseph Ratzinger vor diesem zeitdiagnostischen Hintergrund in seinem Denken eine Koalition von Vernunft und Glaube die den Menschen durch die Hallen des griechisch-philosophischen Denkens leitet, um ihn schließlich und unausweichlich wieder in den Schoß der Religion zurückzuführen, bleibt Habermas auf Distanz bedacht. Selbst in einer „postsäkularen“ Gesellschaft steht jeder religiös motivierte Beitrag in der Pflicht, seine Geltungsansprüche im Wechselspiel der Argumente offenzulegen.

 

In jüngeren Arbeiten und Reden wendet Habermas diese Idee einer Implementierung von Religion in die diskursive Grundmelodie moderner Gesellschaften noch einmal, indem er eine gegenseitige Lernbereitschaft von säkularen und religiösen Menschen einfordert. „Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt. Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach“, schreibt er in der Einleitung seines Aufsatzbandes „Zwischen Naturalismus und Religion“. Es geht Habermas also um die Bewahrung eines im Religiösen bewahrten Glutkerns, der sich an den zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten und der Unerlöstheit dieser Welt immer wieder neu entzündet.

 

Wenn Habermas somit auf eine von der päpstlichen Theologie und ihrer christologischen Fokussierung deutlich differierende theologische Grundsensibilität abhebt, so fragt sich freilich, aus welchen Quellen der „religiös Unmusikalische“ hier schöpft. Anders gefragt: Weist sein Denken nicht doch tief sitzende, als „politisch-theologisch“ zu qualifizierende Wurzeln auf?

 

Auschwitz als Zäsur

 

Begibt man sich mit dieser Frage auf einen werkgeschichtlich-biografischen Tauchgang, so stößt man bei Habermas zunächst auf eine tiefe frühe Erschütterung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, die Habermas selbst als Erfahrung einer „Zäsur“ bezeichnet – als Zäsur, die ganz eng mit dem Namen Auschwitz und mit den Enthüllungen rund um den Auschwitz-Prozess verbunden war. Ohne diese persönliche Erschütterung, ohne das existenziell berührende Erschrecken vor dieser Dunkelheit des Zivilisationsbruchs, wäre er, wie er schreibt, „wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt“. Nach Auschwitz habe „alles einen doppelten Boden bekommen“ – alle guten Absichten, alle geschichtsphilosophische Kontinuität, auch die politisch von der Ära Adenauer zur Schau getragene bürgerliche Kontinuität habe auf einmal ihre Doppelbödigkeit – oder treffender: ihre Bodenlosigkeit gezeigt. „Was wir vorher als mehr oder weniger normale Kindheit und Jugend erlebt hatten, war nun ein Alltag im Schatten des Zivilisationsbruchs gewesen.“

 

Ihre intellektuelle Entsprechung fand diese persönliche Zäsur-Erfahrung schließlich Mitte der 1950er-Jahre, als Habermas in die Welt des aus heutiger Perspektive seltsam unzeitgemäßen, weil nicht in die damalige universitäre Landschaft passenden Frankfurter Instituts für Sozialforschung eintauchte. Stellte diese Zäsur zunächst eine ganz lebensweltliche Erfahrung für Habermas dar, so inhalierte er sie doch vollends mit dem Betreten dieses vom jüdisch apokalyptischen Denken durchfurchten Kosmos kritischer Gesellschaftstheorie.

 

Eintritt in diese „andere“ akademische Welt gewährte ihm der heute oftmals nur mehr als philosophiegeschichtliches Denkmal erinnerte und damit verkannte Frankfurter Denker Theodor W. Adorno. 1956 holte er Habermas – gegen den Widerstand des Institutsleiters Max Horkheimer – als persönlichen Mitarbeiter zu sich. Vor dem Hintergrund der damaligen starken restaurativen Kräfte an den deutschen Universitäten erschien Habermas das Frankfurter Institut wie ein anderer Planet – ein Planet, an dem mit Gershom Scholem, Siegfried Kracauer, Ernst Bloch und – vor allem – Walter Benjamin wie selbstverständlich Namen kursierten, die aus der universitären Philosophie und Gesellschaftstheorie entweder getilgt oder längst vergessen waren.

 

Im Zentrum der am Frankfurter Institut auch geführten theologischen Debatten stand vor allem Walter Benjamin, der brillante Essayist und Literaturwissenschaftler, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Ihm ist es zu verdanken, in seinen berühmten geschichtsphilosophischen Thesen einen Begriff von Geschichte entwickelt zu haben, der die Opfer der Geschichte, die ungezählten Toten, nicht einfach den malmenden Zeitläuften überlässt, sondern ihr Leiden als unabgegolten erinnert. Selbst durch die Katastrophalität und die von allen Frankfurter Denkern gespürte grenzenlose Negativität des Geschichtslaufes hindurch will Benjamin dieser „Permanenz des Unerträglichen“ einen schwachen, gleichsam messianischen Funken der Hoffnung auf Rettung entgegenhalten.

 

Nachtschwarze Ruinen

 

Neben Adorno ist es gerade Benjamin, der von Habermas bis heute immer wieder rezipiert wird. So tastete er etwa bereits rund zehn Jahre vor seiner großen „Theorie des kommunikativen Handelns“ mit Benjamins Hilfe nach möglichen Kriterien einer modernen Kommunikationstheorie. Diese müsse laut Benjamin zweierlei in sich vereinen: zunächst die geradezu utopische Vorstellung, dass es eine der gesellschaftlichen Gewalt nicht zugängliche, ursprüngliche Sphäre der Sprache und Verständigung gibt, laut Benjamin „die eigentliche Sphäre der Verständigung, die Sprache“; zum anderen aber auch, dass man dem dieser Behauptung innewohnenden Sprach- und Kommunikationsoptimismus stets mit Vorsicht und Skepsis begegnet, mit Benjamin gesprochen: „Pessimismus auf der ganzen Linie! Jawohl und durchaus.“

 

Trotz dieser zahlreichen werkgeschichtlichen Verstrickungen ist es bekanntlich zum philosophischen Bruch zwischen Habermas und seinen Frankfurter Lehrern gekommen. Ein Bruch freilich, den Habermas als Befreiung empfand – als Befreiung von einem in Negativität erstarrenden Denken. Der Vorwurf, den Habermas gegen Adorno und Horkheimer erhob, war gewaltig. Er lautete, dass sie den Geist einer totalen Gesellschaftskritik aus der Flasche gelassen hätten, der ihrem eigenen Denken letztlich jeden normativen Boden unter den Füßen wegzog. Anders gesagt: Wie könnte man noch ernsthaft und glaubhaft das „falsche Leben“ und die kapitalistisch korrumpierte und von Pathologien zerfurchte Gesellschaft vor den Richterstuhl zerren, wenn a) die Kritik selbst aus diesem so falschen Leben kommt und b) der Richterstuhl vakant bleibt? „Wer garantiert ihnen eigentlich“, so fragte etwa auch der Frankfurter Soziologe Helmut Dubiel seine theoretischen Ahnen an, „dass ihre eigene theoretische Arbeit von dem verzehrenden Sog der instrumentellen Vernunft verschont würde?“

 

So steht Habermas am Beginn seiner akademischen wie öffentlich-intellektuellen Laufbahn vor einem großen Scherbenhaufen, der sich nicht ohne weiteres und ohne Verwandlung des Ganzen wieder in ein strahlendes Mosaik zusammenfügen ließ. Es galt, die glitzerndsten wie die dunkelsten Steine dieses Mosaiks beiseite zu legen – die durch und durch pessimistische Geschichtsphilosophie, den aufs rein Instrumentelle verkürzten Vernunftbegriff, der die Basis der „Dialektik der Aufklärung“ bildete, sowie die absonderliche Unterschätzung der Demokratie und der in ihr frei werdenden emanzipatorischen Momente. Es ist Habermas zu verdanken, diese nachtschwarz in den Theoriehimmel ragenden Ruinen eingeschmolzen und in eine neue Währung, in sprachphilosophisch glänzende Münzen, umgeprägt zu haben – wobei freilich das Material auch in seiner kritischen Verkehrung das gleiche bleibt.

 

In vermintem Gelände

 

So bleibt festzuhalten, dass Habermas mit der kritischen Aneignung des Frankfurter Denkens immer auch ein Stück Theologie aufgesogen hat – eine Theologie freilich, die sich an keinem Kanon abarbeitete, sondern deren Faszination im Beharren auf einem universalen, wenn auch leiddurchkreuzten Geschichtsbegriff lag. Selbst Adornos berühmtes Zitat, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“, atmet noch diesen letztlich theologisch grundierten Universalismus.

 

Dabei erinnert die Kritische Theorie die religiöse und theologische Semantik, als wäre sie eine längst verflossene und dennoch weiterhin das Herz berührende Liebe, oder mit Horkheimer gesagt: „Sie weiß, dass es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.“ Nur vereinzelt lüftet diese Melange aus Gesellschaftskritik, Kulturkritik und Sozialphilosophie ihre Decke und erlaubt einen Blick auf das intime Gerüst, auf die Quelle und den Beweggrund ihrer Kritik. So liest man ebenfalls bei Horkheimer etwa unvermittelt den Satz: „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen …, und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich.“

 

Es ist dies – wie Habermas schreibt – der „Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet“, der das in Kommunikations- und Handlungstheorie heruntergebremste und abgekühlte Erschrecken vor den Auswüchsen einer in ihre abgrundtiefe Gewalt abgesunkenen Aufklärung stets aufs Neue anfacht oder doch zumindest als schmerzenden Stachel der Vergesellschaftung in Erinnerung hält. Es ist dies freilich auch ein Glutkern, der den „äußersten Punkt der Verzweiflung“ berührt, wie es der Theologe Helmut Peukert formuliert; ein Punkt also, an den letztlich keine Theorie sprachlicher Verständigung mehr tröstend rühren kann, wo Kommunikation nicht in Argumente und Diskurse mündet, sondern in einen Schrei.

 

Der „äußerste Punkt der Verzweiflung“ markiert damit den Graubereich zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Sprache und – Gebet. Bezeichnenderweise ist es Adorno, der im letzten und vielleicht wichtigsten Text seiner Aphorismensammlung „Minima Moralia“ überhaupt in entwaffnender Offenheit das Visier seines Denkens öffnet und jene dunklen Wurzeln freilegt, die auch die Habermasschen Wurzeln bleiben. Der Text hebt mit dem erschütternden Satz an: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“

 

Gewiss, der Graubereich zwischen Philosophie und Theologie bleibt – wie Habermas zu Recht schreibt – „vermintes Gelände“. Zu zweideutig und dialektisch gebrochen bleibt freilich auch der Begriff der Erlösung. Dennoch gilt ebenso, dass das Dringlichste und zugleich Unnahbarste, zu dem sich Philosophie und Theologie verhalten müssen, jener Riss der Leidensgeschichte ist, der quer durch die Schöpfung geht. Diesen Riss kann keine Kommunikation kitten, kann keine Diskursethik bereinigen. Ihm kann man sich nur im Eingedenken der Toten stellen, in einer Frömmigkeit, die sich nicht in Versenkung ins Selbst übt, sondern sich als tätige Mystik der offenen Augen versteht. Angesichts dieser – und nur dieser – Position kann man vielleicht unterstellen, dass Habermas zumindest ein wenig „fromm“ geworden ist.

 

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Ein Bewusstsein von dem, was fehlt
Seit mehr als vierzig Jahren ist der Sozialphilosoph Stichwortgeber für die gesellschaftlichen Diskurse. Dabei erlebten religiöse Fragestellungen ein Comeback. Eckpunkte einer politisch-theologischen Biografie aus Anlass seines 80. Geburtstags.
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Cover: suhrkamp.de
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Der Moment der Demokratie

 

1989 bedeutete auch für die Sozialphilosophie ein Wendejahr: Übten sich linke Intellektuelle zunächst in Trauerarbeit, so entdeckte man die Jahre vor der „Wende“ schließlich als Initialzündung für eine demokratische Erneuerung „von unten“. Das Zauberwort lautet hierzu bis heute „Zivilgesellschaft“

 

Erschienen im "Rheinischen Merkur" am ###

 

Demokratien haben ihre eigenen Rhythmen und Bewegungen. Zeiten der Krise wechseln sich ab mit Zeiten demokratischer Verdichtung. Dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch zufolge lässt sich dieser Verlauf als Parabel zeichnen, als zwischen zwei Extremen mäandernde Kurve.

 

Derzeit befindet sich die Demokratiekurve laut Crouch allerdings im freien Fall, unser politisches System ist drauf und dran, in den Status der „Postdemokratie“ einzutreten. Nie zuvor war die Zustimmung zur parlamentarisch organisierten Demokratie so gering, Protestwähler werden zu Nichtwählern, der Einfluss der Wirtschaftslobbyisten wächst und in den medialen Vorhöfen der Politik, bei Maybrit Illner und Anne Will, wird der Diskurs zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten entdifferenziert und auf Ein-Satz-Statements heruntergebrochen. Stellten öffentliche Diskursarenen einst die eigentlichen demokratietragenden Instanzen dar, so kann man heute von einer veritablen Krise der politischen Öffentlichkeit sprechen. „Prozessmelancholie“ nennt der Philosoph Peter Sloterdijk die daraus entstehende Melange aus bürgerlicher Schicksalsergebenheit und Resignation angesichts einer von den lebensweltlichen Wurzeln gekappten politischen Klasse.

 

Wenn Crouch mit seiner These einer politischen Parabel Recht hat, so markierte das Datum 1989 hingegen zweifellos einen Höhepunkt, sozusagen einen „Moment der Demokratie“. Mit Demonstrationszügen und gewaltlosem Widerstand wurden in Osteuropa nach einem Jahrzehnt wachsender gegenöffentlicher Agitation ganze in sich geschlossene politische Systeme zum Einsturz gebracht. Daher verwundert es auch nicht, wenn angesichts der grassierenden Krise des Politischen auch von Seiten der sozialphilosophischen Denker verstärkt in der Geschichte des osteuropäischen Widerstands nach Impulsen für eine Erneuerung des Politischen gesucht wird.

 

Der Zauber des Anfangs

 

Erinnerung an 1989 ist heute professionalisierte Selbstvergewisserung einer deutsch-deutschen Identität. Bilder von einem stammelnden Günter Schabowski bei einer denkwürdigen Pressekonferenz, von überforderten Grenzposten, schließlich von auf der Mauer tanzenden und sich in den Armen liegenden Menschen. Längst vergessen und im Gefühlstaumel geglättet hingegen die Diskussionen über die zukünftige Staatsform, über eine Zweistaatenlösung, über die Wiedervereinigung. Erinnert wird heute, zwanzig Jahre „danach“, eine geschichtliche Kontinuität im besten Sinne einer historischen Teleologie: es hätte gar nicht anders kommen können. Der „Kanzler der Einheit“ proklamierte dieselbe – und zugleich „blühende Landschaften“ – und die CDU siegte auf ganzer Linie. Skandierten die Menschen zuvor „Wir sind das Volk“, so wurde daraus schon bald „Wir sind ein Volk“.

 

Doch wozu diese Ernüchterung im Jahr des Gedenkens? Die Antwort ist so simpel wie komplex: Will man sich im Jahr 20 nach der „Wende“ auf die Suche nach dem Kern des Widerständigen, nach dem Heiligen Gral der Demokratietheorie begeben, so muss man sich des Pathos’ und der medialen Geschichtseinebnung ein stückweit entledigen. Denn besteht im Rückblick betrachtet nicht im bloßen „Nein“ der eigentliche Zauber des Anfangs, die Magie dieses „Moments der Demokratie“? „Was ist ein Mensch in der Revolte?“ fragte Camus in seinem berühmten gleichnamigen Werk. Die Antwort: „Ein Mensch, der Nein sagt“. Ein Nein allerdings, das in seiner Schlichtheit auf alles abzielt, nämlich auf die Veränderung des Bestehenden, auf die Umkehr der Verhältnisse.

 

War es nicht diese Ungewissheit des „Danach“, die den Aufbruch ins gesellschaftlich unbestimmte Neuland anschob und die zum Motor einer politischen Diskurskultur wurde, die heute allenthalben gesucht und vermisst wird? Wenn es nämlich stimmt, dass die utopischen Energien heute weitgehend ausgezehrt sind, die Demokratie aber dennoch weiterhin – um ein bekanntes Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde zu zitieren – von Voraussetzungen lebt, die sie selbst weder herstellen noch garantieren kann, so droht dem liberalen demokratischen Rechtsstaat ein Sinnvakuum, eine Entleerung seiner selbst, die sich bereits in grassierender Apathie und besinnungslosem Hass, in Fatalismus und Fanatismus ankündigen.

 

Die Fragen, mit denen man in der Sozialphilosophie heute an die deutsch-deutsche Geschichte herantritt, lauten demnach: Wie kann dieses Vakuum aufgefüllt werden, ohne in eine Entdifferenzierung moderner Selbstverständigungsdiskurse zu kippen, in eine Beschwörung einer vermeintlich kruden Naturrechtsphilosophie, die aus freien und gleichen Staatsbürgern wieder in einer ethnisch-geschichtlichen Schicksalsgemeinschaft verfangene Volksgenossen zimmert? Welche sozialen Integrationsformen taugen, um symbolische Bänder der Einheit zu knüpfen, die politische Konzentrationen ermöglichen, ohne einen einheitlichen Volkskörper zu beschwören?

 

Ins Konkrete, schließlich Politische gewendet: Welche Momente bürgerlicher Partizipation braucht ein funktionierender Rechtsstaat? Was ist der normative Kern unseres Gemeinwesens? Zuletzt: Wie sollten in einer etablierten wirtschaftsliberalen Demokratie Momente des Widerständigen, ja, der Revolte wach gehalten werden?

 

Während das konservative Milieu nach „89“ zunächst vollmundig mit Francis Fukuyama an den Sieg des Kapitalismus auf ganzer Linie und damit letztlich an ein „Ende der Geschichte“ glaubte, waren es linke Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Helmut Dubiel oder Ulrich Rödel, die sich auf der Suche nach einer Neuausrichtung linken Denkens mit eben diesen Fragen der jüngsten Historie beschäftigten. Nach einer anfänglichen Phase „linker Trauerarbeit“ (H. Dubiel), in der sich die Linke in schmerzhafter Offenheit ihrer heimlich gehegten Vorliebe für den Sozialismus stellte, galt es, ein neues linkes Projekt zu entwerfen. Es stand im Zeichen einer Transformation der sozialistischen Idee in einen komplexen Begriff aus Gesellschafts- und Selbstkritik – und zwar nicht als Selbstzweck, sondern im Kampf um die „Balance des Erträglichen“ (J. Habermas) in der heutigen Politik. Die Linke positionierte sich in der Folge als Kontrapunkt zur Realpolitik in einer rechtsstaatlichen Massendemokratie.

 

Zivilgesellschaft Ost-West

 

Zur eigentlichen Initialzündung wurde im Rahmen dieser Projektsuche ein dem Blick auf die osteuropäischen Widerstandsbewegungen entlehntes Schlagwort, das fortan und bis heute den politischen Diskurs belebt und pulsierend durchzuckt: die Rede von der Zivilgesellschaft. Endlich, so die ungebrochene Hoffnung, konnte man auch in Deutschland jenem Begriff, der bereits seit einigen Jahren durch den angelo-amerikanischen wie durch den französischen Diskurs geisterte, ein konkretes Gesicht geben.

 

Osteuropäische Intellektuelle wie Jacek Kuron, Adam Michnik aber auch Lech Walesa wurden intensiv gelesen und rezipiert. Dabei rieb man sich verdutzt die westlichen Augen: in den Spalten, Winkeln und Ritzen eines vermeintlich totalitären Regimes war es tatsächlich möglich gewesen, hochgradig produktive Gegenöffentlichkeiten zu begründen, Diskussionszirkel, „Thinktanks“ für die Zeit „danach“. Freilich, die Vorstellungen über dieses „danach“ waren überall anders: selbst innerhalb des Motors der osteuropäischen Widerstandsbewegungen, der polnischen Solidarnosc, gab es unter dem einen Dach zahlreiche Denkrichtungen und politische Strömungen, die von einer Zivilisierung des Kommunismus bis zu einem radikalen Umsturz reichten. Zusammengehalten wurden sie allesamt – so hat es die geschäftsführende Direktorin der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, Irena Lipowicz, formuliert – vom „gemeinsamen Traum von Freiheit und Menschenrechten“.

 

Westdeutsche Denker inspirierte diese Idee direkter bürgerlicher Partizipation und gesellschaftlicher Subjektwerdung, wenngleich es galt, vor lauter Begeisterung für die Revolte nicht das westdeutsche, rechtsstaatlich-gewachsene demokratische Kind mit dem Bade auszuschütten. Die neu entdeckte Zivilgesellschaft wurde entsprechend als „Ort des Politischen“ in komplexen Demokratietheorien und Politischen Philosophien reflektiert. Dabei konzentrierte man sich insbesondere auf die Frage der politischen Funktionalität der Zivilgesellschaft im bestehenden rechtsstaatlichen System. So wurde Zivilgesellschaft etwa im Habermasschen Konzept „deliberativer Demokratie“ zum Bindeglied zwischen politischer Peripherie und politisch-parlamentarischem Zentrum – und damit zugleich herunterreguliert und soweit entschärft, dass für den ursprünglichen Impuls der Dissidenz kaum mehr Platz blieb.

 

Helmut Dubiel ging in seiner politischen Philosophie noch einen Schritt weiter und erklärte die ost- und westdeutschen Zivilgesellschaftsbegriffe für gänzlich inkompatibel: Lebte nämlich die vorrevolutionäre Zivilgesellschaft in Osteuropa laut Dubiel von der „negativen Bürgschaft“ geschlossen-totalitärer politischer Systeme, so steht die Zivilgesellschaft heute vor der Herausforderung, politische Meinungs- und Willensbildung zu fördern und die demokratische Basis mit den rechtsstaatlichen Institutionen zu vermitteln. Anders gesagt: Stand die Zivilgesellschaft in Osteuropa vor der Aufgabe, die Trennung von Staat und Gesellschaft einzufordern, so geht es heute gerade darum, diese Trennung hin zu einem komplementären Verhältnis zu verändern.

 

Was war die Frage?

 

Unterschlagen wurde bei der westdeutschen Adaption jedoch ein weiteres wesentliches Moment der zivilgesellschaftlichen Dissidenz in Osteuropa: die moralische Aufladung. So verstanden etwa polnische Intellektuelle wie Adam Michnik oder Tadeusz Mazowiecki, tschechische und russische Dissidenten wie Vaclav Havel und Alexander Solschenizyn ihr Engagement nicht etwa als Ausdruck eines Politpragmatismus – es ging vielmehr um die Einklagung einer neuen politisch-gesellschaftlichen Moral, die sich an den Leitworten Würde, Wahrhaftigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit und Humanität orientierte und die sich darin markant von den poststalinistischen Machthabern abhob. Eingang gefunden hat dieser moralische Impetus insbesondere in die spezifische anglo-amerikanische Diskussion der „civil society“, etwa in Form des „Kommunitarismus“.

 

So lässt sich festhalten, dass heute eine begriffliche Ernüchterung stattgefunden hat: Zwanzig Jahre nach der Selbstinstituierung der Gesellschaft als Träger des Politischen scheint die Zivilgesellschaft in den Ketten der Realpolitik zu liegen, ohne Aussicht auf Befreiung. Zivilgesellschaft ist zu einem Begriff politischer Funktionalität geworden. Von einem hochgradig sozialethisch aufgeladenen Begriff ist sie zu einem Terminus des realpolitischen Vorfeldkampfes geworden, wo Themen zubereitet, zugerichtet, für die realpolitischen Prozesse zubereitet werden, wo Lobbyarbeit mit der Arbeit von NGOs verschmilzt. Die Revolte ist der sanft begleitenden Kurskorrektur gewichen. Von einer „semantischen Entleerung“ des Begriffs spricht entsprechend der Sozialphilosoph Volker Heins – und er stellt die provozierende Frage: „Wenn ‚Zivilgesellschaft’ die Antwort ist, was war dann die Frage?“

 

Zivilgesellschaft „revisited“

 

Was also tun? Zunächst gilt es vor dem Hintergrund der osteuropäischen Dissidentenbewegungen wiederzuentdecken, dass Zivilgesellschaft immer auch ein normativer Begriff ist, dass Zivilgesellschaft keine Status-quo-Beschreibung meint, sondern stets einen überschießenden utopischen Kern besitzt. Wo Gesellschaft – eigentlich ein Pluralwort – zusammenkommt, sich ver-gesellschaftet und sich anlassbezogen als symbolische Einheit versteht, dort „gelingt“ Zivilgesellschaft. Sie hat jedoch von Hause aus eine geringe Halbwertszeit, sie zerfällt zur Interessenpolitik, wo sie auf Dauer gestellt wird.

 

Ihre glücklichsten Momente sind jene Sternstunden, in denen Willensbildung und Willensartikulation eine produktive politische Symbiose eingehen, in denen die realen gesellschaftlichen Brüche symbolisch überbrückt werden, ohne sie zu überwinden, kurz: in denen der Moment des Politischen aufleuchtet. So empfiehlt am Ende auch Crouch als Weg aus der „Postdemokratie“ die Bildung „neuer sozialer Identitäten“, und er nimmt dazu explizit die „neuen sozialen Bewegungen“, die Zivilgesellschaft in die Pflicht.

 

Aber es kommt ein weiteres hinzu: Es bedarf Institutionen des Denkens des Anderen. Einiges spricht in dieser Situation für die Theologie! Waren es nicht die Kirchen und einige mutige Geistliche und – vereinzelt – Bischöfe, die einen geographischen wie gedanklichen Freiraum zum Denken des Anderen ermöglicht haben? Die Rolle des polnischen Papstes Karol Wojtyla beim Zusammenbruch des Kommunismus wurde bereits oft und ausgiebig gewürdigt. Doch es waren Studentenseelsorger gleichermaßen wie Landpfarrer, die ihre Kirchen als geographische und ideelle Orte des Widerstandes öffneten.

 

So formulierte etwa der ostdeutsche evangelische Theologe Heino Falcke, dass die Kirchen eine dreifache Rolle im Widerstand übernahmen: sie waren in den Brennpunkten des Widerstandes präsent und übernahmen mitunter Führerschaft, sie waren Fürsprecher und Stellvertreter und sie boten einen freien Diskussionsraum, in dem sich „kritische politische Intelligenz“ herausbilden konnte. Die osteuropäische Zivilgesellschaft wurde demnach gerade insofern zum Ort eines neuen Politischen, als sie ihre Quellen der Dissidenz in einer gesellschaftlich sensiblen Theologie fand – weniger pathetisch: in einer Religiosität, die Glaube und Welt nicht voneinander schied.

 

Wer einen Beleg für diese im wahrsten Sinne des Wortes „postsäkulare“ Form einer geglückten Symbiose von Politik und Religion sucht, dem empfiehlt sich ein Blick in die Dokumentensammlung „Nikolaikirche – offen für alle“ von Karl Czok. So findet man darin etwa den bewegenden Brief des Arbeiters Peter S. vom 16. Oktober 1989 an seinen Enkel in der Schweiz. Wie so viele nimmt er in diesen bewegten Oktobertagen an den montäglichen Friedensgebeten teil. Obwohl er kein Christ ist.

 

Peter S. schreibt: „Die Kirche füllt sich und ist bald überfüllt. Dabei ist noch viel Zeit bis zum Friedensgebet. Friedensgebet, was das bloß ist? Ich bin nicht gläubig, aber getauft wie Du, trotzdem bin ich hier. Warum? Ich schaue mich um. Wo sind sie, die Rowdys? Die, die die öffentliche Ordnung stören und ‚staatsfeindliche Parolen’ schreien und Transparente mit ‚antisozialistischem Inhalt’ durch unsere Innenstadt tragen. Ich sehe nur Menschen, die so sind wie ich. … Sind das die Christen? Aber ich bin ja auch still, weil ich in Gedanken bin. In Gedanken bei Dir. Bin ich auch ein Christ?“

 

Innerhalb und außerhalb der Welt

 

In dem Maße, wie die Zivilgesellschaft ihre innovatorische Qualität wie ihren Widerstandsgeist nicht nur aus nüchterner Polit- und Gesellschaftsanalytik sondern aus dem exterritorialen Blick, aus dem Bewusstsein dessen, was fehlt, schöpft, ist die Theologie gefordert, Denkräume zu öffnen, die diesen Blick und dieses Bewusstsein für das Ausständige, das Unerfüllte, nicht zuletzt für die glühenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit schärfen.

 

Wo eine Staatsphilosophie am Gegebenen haftet, kann sich die Theologie von allen Vorgaben frei machen, kann sie in produktiver Form ihr „Außerhalb der Welt innerhalb der Welt“ formulieren, wie es der Münsteraner Theologe Jürgen Werbick formuliert. Wenn Politik – einem Wort des Philosophen Slavoj Zizek zu Folge – die „Kunst des Unmöglichen“ darstellt, wer wäre dann besser geeignet, diese Kunst zu beflügeln, als die Theologie?

 


Foto: Wikipedia
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Dem Rad in die Speichen fallen

 

Im Wendejahr galten die katholischen Christen in der DDR als Trittbrettfahrer der Geschichte. Zurückhaltung, Zaudern, Zagen bestimmte ihr Handeln. Aber stimmt dieses gern gepflegte Klischee überhaupt? Der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek rückt die Fakten ins rechte Licht

 

Erschienen im "Rheinischen Merkur" am ###

 

Geschichte kann gnadenlos sein – vor allem für jene, die zu spät kommen oder den „wind of change“ nicht zu deuten wissen. Zu jener Gruppe gehören einem weit verbreiteten Konsens der neueren deutschen Geschichtsschreibung zufolge auch die Katholiken in der DDR. Anders als die ungleich politischeren evangelischen Christen gelten sie gemeinhin als Trittbrettfahrer des Umsturzes, als gesellschaftspolitische Abstinenzler, die sich mehr um die Bewahrung eines wackeligen Staat-Kirche-Gleichgewichts im SED-Regime gekümmert haben, als dass sie das Kreuz der Nachfolge in widrigen Umständen auch auf den Straßen auf sich genommen hätten.

 

Selbstkritik scheint also angesagt und wird – nicht ohne mediales Begleitkonzert – rund um das 20-Jahr-Gedenken auch geäußert. So räumt etwa den Berliner Erzbischof, Kardinal Georg Sterzinsky, in einem Interview ein, dass das Verhalten der katholischen Kirche im Wendejahr „zu zaghaft“ und „zu ängstlich“ gewesen sei. Galt politische Zurückhaltung jahrelang als Garant für ein in den engen Grenzen eines kirchenfeindlichen Überwachungsstaates aufrecht zu erhaltendes kirchliches Leben, so stellte sich diese Taktik spätestens 1989 als überholt dar.

 

In dieselbe Kerbe schlug bereits sehr früh der Erfurter Bischof Joachim Wanke. In einem Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit im Jahr 1990 formulierte Wanke selbstkritisch: „Ja, auch wir [katholische] Christen haben Buße nötig. Jeder von uns wird bedenken müssen, wo er – mit oder gegen seinen Willen – in die allgemeine Unwahrhaftigkeit dieses Landes mitverstrickt war.“ Und er fragte: „Hatten wir vielleicht zu wenig Mut, besonders in den letzten Jahren, uns in die Gesellschaft einzumischen, um sie zu verändern?“ Schließlich resümiert der bekanntlich um deutliche Worte nie verlegene ehemalige Berliner Bischof (1980-1989) und jetzige Erzbischof von Köln, Kardinal Joachim Meisner: „Wenn ich gewusst hätte, dass der Laden nur noch zwei Jahre hält, wäre ich frecher gewesen“.

 

So sehr dieses Zitat schmunzeln lässt, so exakt trifft es jenes Dilemma, in dem die „offizielle“ katholische Kirche in der DDR, vertreten durch die von 1976 bis 1990 agierende „Berliner Bischofskonferenz“, verfangen war. Denn weniger war es Mutlosigkeit der Bischöfe oder gar eine Selbsttäuschung der Kirche, die den Grund der politischen Passivität ausmachten, sondern vielmehr eine über viele Jahre eingeübte diplomatische Praxis, die die Kirche in ein allzu starres kirchenpolitisches Korsett einschnürte.

 

So lautet jedenfalls die These des Erfurter Kirchenhistorikers und Experten für die DDR-Zeitgeschichte, Prof. Josef Pilvousek. In zahlreichen Aufsätzen und Büchern, zuletzt in einem Beitrag über „Bischofskonferenz, Bischöfe und die friedliche Revolution von 1989“ in der Erfurter theologischen Zeitschrift „Theologie der Gegenwart“, hat Pilvousek immer wieder zu historischer Genauigkeit gemahnt. Man müsse unterscheiden zwischen den institutionellen und den konkreten Akteuren, denn „kaum unterschieden wurde zwischen Gläubigen, Priestern und Bischöfen, kaum präzisiert, worauf sich das ‚Versagen’ eigentlich bezog“, so Pilvousek.

 

Ohne das tatsächliche Zaudern der nach Möglichkeit stets mit einer Stimme sprechenden „Berliner Bischofskonferenz“ herunterspielen zu wollen, lässt sich die politische Abstinenz jedoch zumindest ein stückweit erklären. So etwa durch den Hinweis auf den seit 1947 für die kirchliche Linie zentralen „Preysing-Erlass“. Ein gutes halbes Jahrhundert hat die – später immer wieder adaptierte und modifizierte – Doktrin des Bischofs von Berlin, Kardinal Konrad von Preysing, seine Gültigkeit bewahrt, dass der Klerus im Umgang mit den staatlichen Behörden äußerste Zurückhaltung zu bewahren hätte. Bis zum Ende der DDR wurde diese Doktrin einer „reglementierten Gesprächsführung“ laut Pilvousek „ständig erneuert und eingeschärft, um Einstiegsmöglichkeiten in den ‚kirchlichen Bereich’ zu verhindern“.

 

In diesem Kielwasser segelte die Kirche in der DDR selbst nach dem von vielen Katholiken bejubelten Konzil weiter. So warnte der langjährige Vorsitzende der „Berliner Bischofskonferenz“ und Zimmermann der kirchlichen Einheit in der DDR, Kardinal Alfred Bengsch, vor einer allzu rapiden Öffnung hin zur Welt. Dem „aggiornamento“ von „Gaudium et spes“ hielt Bengsch die Warnung vor einer übertriebenen „Dialogbesoffenheit“ entgegen.

 

Kurz gesagt: die kirchlichen Leitungsgremien lagen in den Fesseln ihrer frühen politischen Grundentscheidung, sich im Staate einzurichten, ohne ihn damit legitimieren zu wollen. Den Blick starr auf diesen schmalen Grat gerichtet, übersah man zugleich, dass sich die Vorzeichen der Politik grundsätzlich zu ändern begannen. Diese Ambivalenz, so schließt Pilvousek, zeigte sich 1989 deutlich: „Was bisher zusammenhielt, schnürte nun ein“.

 

Dennoch war die katholische Kirche in der DDR keinesfalls eine „schweigende Kirche“. Immer wieder haben DDR-Bischöfe durch Predigten, Hirtenbriefe oder Sendschreiben den Staat brüskiert, so dass sie unter verschärfte Beobachtung gestellt wurden. Beschleunigt wurde dieser Emanzipationsprozess von den verkrusteten kirchenpolitischen Vorgaben schließlich durch einen Generationenwechsel im ostdeutschen Klerus Anfang der 1980er Jahre. Mit Joachim Meisner, Joachim Wanke, Joachim Reinelt und Georg Sterzinsky kamen Bischöfe ans Ruder, die sich laut Pilvousek „immer weniger an die sogenannten ‚Geschäftsgrundlagen’“ und damit an die bisherige „political correctness“ hielten. Internationale theologische Netzwerke wurden geknüpft, Symposien abgehalten. Auch sprach die neue Generation offener und unverzagter. So griff etwa Bischof Wanke in einem Hirtenbrief vom 23. September 1989 das SED-Regime offen an und benannte gesellschaftliche Missstände. Pilvousek: „Dieser Hirtenbrief war im Inhalt und Zuschnitt eine völlige Abkehr von der bisherigen Linie der Geschlossenheit und politischen Abstinenz der Berliner Bischofskonferenz“.

 

Es war Bischof Wanke, der diesen Mentalitätsumschwung selbst auf den Punkt brachte: „Wir wollen auch hierher gehören, nicht, weil wir nicht anders können, sondern weil wir um dieses Landes willen einen Weg suchen wollen, um das Evangelium Christi auf ‚mitteldeutsch’ zu buchstabieren“. Durch diese Kurskorrektur wurde laut Pilvousek eine zuvor primär kirchenpolitische Fixierung aufgegeben, „ohne dass es dadurch aber zu einem Aufbrechen der inneren Geschlossenheit und einer Instrumentalisierung der katholischen Kirche für den Staat und die sozialistische Gesellschaft gekommen wäre.“ Es galt fein zu diffferenzieren, „an welcher Stelle wir in die Speichen greifen“, so Kardinal Sterzinsky. Und heute gelte es ebenso fein zu differenzieren „zwischen Gläubigen in den Gemeinden (…) und dem Handeln der offiziellen Vertreter der Kirche“.

 

Ein weiteres Anzeichen dieses wachsenden neuen Selbstbewusstseins war etwa der Hirtenbrief der ostdeutschen Bischöfe von 1986, in dem sie erklärten „Wir sind nicht eine Landeskirche, sondern katholische Weltkirche in einem Land“ und so ihre bleibende Distanz zum politischen Regime klarstellten. Offensiv zeigte sich dieses Selbstbewusstsein schließlich im Katholikentreffen in Dresden 1987, an dem rund 100.000 Gläubige teilnahmen. Auch drei „Ökumenische Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ in Dresden und Magdeburg in den Jahren 1988/89 sollten Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses in kritisch-produktiver Distanz zur politischen Klasse des Landes sein, ohne sich jedoch aus der gesellschaftlichen Verantwortung herauszustehlen.

 

Ein Spagat, der erst durch eine gemeinsame Erklärung vom 11. November 1989 unter dem Titel „Zur gegenwärtigen Situation in Staat und Gesellschaft der DDR“ aufgelöst wurde. Erst zu diesem freilich sehr späten Zeitpunkt, als die friedliche Schlacht bereits geschlagen war, sprachen sich die Bischöfe endlich offen dafür aus, die „gewisse Zurückhaltung“ aufzugeben und den „Prozess der Erneuerung“ auch von katholischer Seite mit Nachdruck zu stützen. Die Aufgabe der Christen bestünde darin, so die Bischöfe, „die Pflicht zur politischen Verantwortung wahrzunehmen“.

 

So sehr die „offizielle“ Kirche von der Wende also auf dem falschen Fuß erwischt wurde, so sehr ist es der katholischen Basis zu verdanken, der Wende durch kleine Schritte mit den Boden bereitet zu haben. Offene Pfarrhäuser und Kirchen wurden auch zu Orten geistiger Dissidenz, in denen der Samen zum Widerstand gelegt wurde. Wenn auch die katholische Kirche sich keinen Orden für ihren direkten Widerstand anheften kann, so darf sie sich zumindest als Wegbereiterin der ostdeutschen Zivilgesellschaft verstehen. Pilvousek: „So darf zu Recht behauptet werden, dass sich unter dem Schutz der Kirchen und durch sie vorbereitet der Wille des Volkes artikulieren konnte. Innerhalb des katholischen ‚Ghettos’ fand also eine bemerkenswerte Einübung in demokratische Spielregeln statt.“

 

Gewiss, die Zeit des Eingedenkens dieses Moments der Demokratie ist keine Zeit für konfessionelle Scharmützel. Der Geist der Ökumene sollte auch hier versöhnlich wehen und zu einem gemeinsamen, vielleicht auch demütigen Blick auf die eigentlichen Träger der Revolution in der ehemaligen DDR anleiten. Ein beredtes Beispiel dafür gibt etwa die Dokumentensammlung „Nikolaikirche – offen für alle“. So findet man darin den bewegenden Brief des Arbeiters Peter S. vom 16. Oktober 1989 an seinen Enkel in der Schweiz. Wie so viele, nimmt er in diesen bewegten Oktobertagen an den montäglichen Friedensgebeten teil – obwohl er kein Christ ist. Peter S. schreibt:

 

„Die Kirche füllt sich und ist bald überfüllt. Dabei ist noch viel Zeit bis zum Friedensgebet. Friedensgebet, was das bloß ist? Ich bin nicht gläubig, aber getauft wie Du, trotzdem bin ich hier. Warum? Ich schaue mich um. Wo sind sie, die Rowdys? Die, die die öffentliche Ordnung stören und ‚staatsfeindliche Parolen’ schreien und Transparente mit ‚antisozialistischem Inhalt’ durch unsere Innenstadt tragen. Ich sehe nur Menschen, die so sind wie ich. … Sind das die Christen? Aber ich bin ja auch still, weil ich in Gedanken bin. In Gedanken bei Dir. Bin ich auch ein Christ?“